Mit Geschmack

«Ist nicht gerade vernünftig, ohne Helm hier herumzulaufen», meinte der Schrat, der sich bereits durch sein Gelächter und den blöden Zigarettenwerbespruch aus der Wirtschaftswunderzeit bei Kampmann semiunbeliebt gemacht hatte. «Das Problem der Menschheit schlechthin», meinte der. «Mensch ist lediglich vernunftbegabt. Aber das war’s dann auch schon. Und Begabung allein wird nicht reichen.» Im selben Augenblick ärgerte sich Kampmann über seine Besserwisserei, aber der Kollege mit der urzeitlichen Anmutung bog sich vor Lachen. «Noch ein paar solcher Klopper, und ich fange wieder an zu saufen. Ist ja zu lustig, der Typ.» Mit einem Mal war die Anstrengung vergessen. «Wie heißt Du eigentlich?», fragte Kampmann den Höhlenbewohner, der sich nun nach und nach aus der Dunkelheit schälte. «Stinam Nam Phmakt», meinte der ein wenig verstohlen. Kampmann konnte nicht mehr und bog sich vor lachen. «Was ist das denn für ein total bescheuerter Name?» «Das kannst Du laut sagen! Das ist dabei herausgekommen, als meine Mutter mit ihrem Kerl total bekifft Scrabble gespielt haben. Und dann haben sie noch den Standesbeamten bestochen, um mir einen ganz anderen Nachnamen geben zu können.» «Hä, geht das? Na ja, wie haben die denn geheißen?» «Das geht nur in einem Einwohnermeldeamt in einem kleinen Kaff in Westfalen. Aber lassen wir das. Meine Mutter hieß Frehse und mein Vater Neumann, und die beiden Honks haben keine Gelegenheit ausgelassen, ihre Story zu verbreiten. Echte Scherzkekse, meine Erzeuger. Tja, so ist das. Aber das alles ist so lange her, dass es mich mittlerweile nicht mehr stört. Außerdem bin ich hier unten sowieso ziemlich von allem abgeschnitten, und niemand, außer solche Trottel wie Du, gehen mir mit Fragen nach meinem Namen auf den Sack. Bei der Gelegenheit: Hast Du nichts Besseres in Erfahrung zu bringen?»

Und auf diese, etwas befremdliche Art und Weise lernten die beiden sich nach und nach kennen und verstehen. «Also, wenn Du hier für die RDS den Keller hütest und das Archiv der Tropfen (AdT) hegst, bist Du da nicht schrecklich einsam?» «Ich habe eine mittelschwere Agoraphobie, daher hocke ich ziemlich gern hier unten und lausche am großen Ohr. Und so macht es mir demgemäß auch so ziemlich gar nichts aus, wenn kaum jemand vorbeischneit.» So plauderten sie sich durch die nächsten zwei bis drei Stunden. Während Kampmann das Archiv kennenlernen durfte. Und Phmakt erfuhr den neuesten Tratsch aus dem Arboretum von Trsteno. Und er schrieb eifrig mit, als ihm Kampmann seine Havarie schilderte. Und natürlich bekam er alles über die anstehende Motivation der RDS mit, sich der bitteren Gegenwart zu stellen. «Es wird Zeit, dass wir etwas unternehmen. Denn alles läuft darauf hinaus, dass Bröno – und es muss sich bei allem, was in letzter Zeit vor sich geht, um die widerlichen Umtriebe der Zeitnazis handeln – bald zum totalen Krieg gegen Zufälle, Fehler, Beliebigkeit und Unvollkommenheit blasen wird. Und was das heißt, das können wir uns lebhaft vorstellen. Dann wird alles zur scheinbar ach so normalen Anomalie stilisiert, und der Weltraumführer wird sich vor die Menschen stellen und behaupten, dass er im Namen der Sicherheit alle erlösen wird.» Kampmann schwindelte, denn Phmakt hatte vollkommen recht mit dem was er schlussfolgerte: «Kampmann, Du wirst Dich dann damit abfinden müssen, dass um der Sicherheit willen alles, was Du jenseits Deiner Arbeit fabulierst, dann als Anomalie verhindert werden muss, und ich werde mein Leben verlieren, weil es mich nicht geben darf, denn ich bin die Anomalie schlechthin.»

«Das sind Ausblicke auf eine unmenschliche Variante des Vegetierens. Er hat ja schon längst seine Automaten in Stellung gebracht. Als ich bei einem der letzten Sprünge durch die Toskana mit Maurizio den Angriff von ihm abwehren musste, war ganz klar, dass er es auf uns alle abgesehen hat. Und er wird nicht eher aufhören, bis er sein schäbiges Ziel erreicht hat.» «Wie recht Du hast, und wir sind genau deswegen hier beieinander. Überflüssig zu sagen, dass ich Dich natürlich erwartet habe. Der Weg hierher war zwar nicht vorherbestimmt, und dass Du so ’rumeiern musstest tut mir zwar nicht wirklich leid, außer vielleicht das Ding mit dem Verkehrsunfall. Andererseits war das die vollkommene Tarnung. Man hat sich an der Strecke erzählt, dass sich da so ein verwirrtes Opfer in die Berge hinein irrlichterte. Gut so, das ist ziemlich perfekt jetzt. Denn so langsam müssen wir die gemütliche Abteilung verlassen und an die Arbeit gehen.» Stinam Nam Phmakt konnte eisern sein, wenn es darum ging, die Ziele der RDS im Blick zu behalten. Er dirigierte Kampmann in seine Schreibstube. Die lag hinter einer dicken Stahltüre. «Alles atombombensicher», gab er beim Eintritt zum Besten. Kampmann wunderte sich nicht einmal über die Ordnung, die hier herrschte. Als er eintrat flackerte die Deckenbeleuchtung kurz, arretierte ihre Gasschwaden zwischen Plus und Minus und ließ erahnen, wie weit der Weg vom Lagerfeuer bis hierher gewesen sein mochte. Die Tiefe der Jahrtausende, die zwischen Phmakt, Kampmann, den anderen und der vorzeitlichen Wüstenei lag. Und immer noch fragten sich die Schafe, was eigentlich so cool daran war, als Falke oder als irgendein anderer Prädator die Netten auf die Knie zu zwingen. Kampmann fröstelte. Die Realität hatte ihn wieder. Nach dem halben Traum mit diesem troglodytischen Nerd kam ihm der gerade ziemlich krass mit dieser Breitseite, dass es ja noch etwas zu erledigen galt. Sie gingen nebeneinander tiefer in den Berg und schwiegen. Die Wände strahlten sie mit einem unwirklichen Weiß an. Hier konnten sie aufrecht gehen. Es roch nach frischem Putzmittel. Der Gang krümmte sich, und dann marschierten sie plötzlich über eins a Auslegeware. Das dämpfte die Schritte. Aus der Tiefe erklangen Töne, Gitarre, heisere Stimme. Was ist das hier? «Hier sind wir übrigens in der ersten bosnischen Musikschule unter der Erde. Die haben die alten Bunker aus dem Kalten Krieg so schön hergerichtet, und nun kommen Schüler aus aller Welt. Und wenn BIH bald in der EU ist, würde es mich nicht wundern, wenn die Deutsche Grammophon hier eine Zweigstelle eröffnen würde. Du glaubst es nicht, Kampmann, aber hier ist ein Studio, in dem ein komplettes Mahlersches Sinfonieorchester Platz hat. Ich habe keine Ahnung, warum die das damals so in den Fels gehauen haben. Die Bewohner Dörfer in der Gegend hätten fünmal hier hineingepasst. Heute profitieren Musiker und wir von der RDS. Hier entlang, bitte.» Und sie nahmen die nächste Kehre.

Dann sah er diese massive Stahltür mit dem Schild der Schilder, und sofort fühlte sich Kampmann daheim. RDS prangte da in Slimbachs schönster Minion mit unnachahmlicher Eleganz. Messing auf Hochglanz. Kitsch, wie es sich geziemt. «Hey, Phmakt, Ihr habt Geschmack.» Sie traten ein, begaben sich in den Besucherraum rechts vom Empfangstresen, an dem ein humanoider Roboter mit einem Staubtuch eine Sukkulente auf Vordermann brachte. «Grüß’ Dich Jamessir», grüßte Phmakt. Der Robo blickte kurz auf, schüttelte aus unerfindlichem Grund den Kopf und ergab sich wieder in das Schicksal des Staubputzers. «Der geht zum Lachen in den Keller», fasste Phmakt die Gesten zusammen, schritt locker durch die Glastür, an der sein Name stand. «Willkommen im Silent HO. Nimm’ Platz. Käffchen?» «Klar, immer. Schwarz ohne Gemüse», retournierte Kampmann. Er federte sich ins Lederhalbrund der Sitzschale und schlug die Beine übereinander. «Also gut, was mache ich hier?», fragte er endlich. «Na, das war eine schwere Geburt. Seit wann sind Leute von der RDS so geduldig? Vergessen wir das. War ja doch ganz lustig mit Dir. Also. Ich kann Dir gar nicht so viel erklären, und wir werden hier und jetzt natürlich keine Pläne schmieden. Aber eines muss ich Dir mitgeben: Du sollst, und das sagen alle Anzeichen, Dich auf den Weg zur Insel Koločep machen. Dur darfst Dich aber nicht in die Schönheit hineinziehen lassen. Wenn Du Deiner Sehnsucht nachgibst, wirst Du niemals wieder heimkommen. Das sage ich Dir vorher, denn Du sollst dort den Oliven-Heini treffen.» Wie jetzt? Das war’s? Warum hat er sich das denn angetan? Der ganze weite Weg für diesen sensationellen Hinweis, mal nicht wie sonst den Odysseus zu geben, der an der Küste irgendeiner Insel irgendeiner schnuckeligen Kirke zum Opfer zu fallen und sich nicht mehr heimzufinden traut. Keine Ahnung, aber nun, das war der Auftrag, das war die Nachricht, das war der Hinweis.

«So, jetzt verpiss’ Dich. Ich habe keine Zeit mehr», polterte Phmakt mit dreckigster Lache. «Nimm’ den Fahrstuhl. Oben wartet ein Taxi auf Dich, dass Dich an die Küste fährt. Du weißt, was Du zu tun hast!» «Mache ich gern, aber warum in Teufels Namen musste ich durch diese Höhle, wenn ich genauso gut den Lift hätte nehmen können?» «Frag’ Cima. Die wollte wissen, mit wem sie es zu tun hat.» Das setzte Kampmann in einen State of disbelief (SoD). «Hä, was hat sie denn damit zu tun?» «Vielleicht bist Du nicht das hellste Licht auf der Torte, Kampi, also lass’ Dir mal auf die Sprünge helfen. Cima ist hier der große Zampano. Cima sortiert hier alle politischen Angelegenheiten. Hast Du ‹Local Hero› gesehen?» Natürlich hatte er das, und natürlich erinnerte er sich an diesen Typen, der alle Ämter in und unter sich vereinte. «Checked», meinte er dann. Phmakt fuhr fort: «Sie wollte Dich kennenlernen. Und wie es den Anschein hat, hast Du die Probe bestanden. Sonst wärst Du niemals bis hierhin gekommen. Ich hoffe, das reicht erst einmal zu Erklärung. Also los jetzt.» [Fortsetzung folgt vielleicht]

Soundtrack: The Gap Band, The Gap Band, Tattoo Records, BJL1-2168, 1977