Irgendwo da oben, da war dieses schwarze Loch im Berg. Der Zug rollte unaufhaltsam dem Tunnel entgegen, meinte er, als seine Sinne wieder zurückgekehrt waren – von woher auch immer. Es wurde rapide dunkler, und sie schraubten sich höher und höher. Im Waggon kehrte sich alles um. Denn zusehends wurden die Gestalten immer klarer und deutlicher. Ihre Konturen zeichneten sich scharf gegeneinander ab. Dann kam die Transparenz; war es schon der Tunnel? Milchige Dunkelheit. Mit einem heftigen Ruck blieb der Zug stehen, und abrupt kehrte das Leben ins Hirn zurück. Und wieder einmal stellte sich Kampmann die Sinnfrage. Offenbar waren sie im Tunnel stecken geblieben. Oder? Jedenfalls hatte es zu stinken aufgehört. Es war jetzt vollständig dunkel, und ihm war unheimlich zumute. Was ihn ständig irritierte, war der Wechsel der Zeiten. Mal schien er im Präsens, mal im Perfekt, mal im Präteritum zu sein. Futur zwei war nicht in Sicht. Das beruhigte ihn. Alles Licht war gewichen. Nur, wohin waren die Photonen abgeflossen? Ex oriente lux. Also nach Westen, wie immer? Das fiel Kampmann dazu ein. Mehr nicht. Es schien abwegig, doch hatte er infolge seiner Fahrten durch die Whermachtsgefilde aufgehört, sich zu wundern. Was also war Phase: Es stank nicht mehr. Er hörte keine Geräusche mehr. Der Zug fuhr nicht mehr. Er sah nichts mehr. «Bin ich tot?», fragte Kampmann sich. «Nein, du Dödel. Wach auf», brüllte eine altbekannte Stimme, die schon seit frühester Kindheit Kampmann und jedes Wesen auf dem Planeten verfolgte: Der Liebe Gott war mal wieder mir nichts dir nichts auf der Bildfläche erschienen. «Kampmann, du bist echt ’n Penner. Mach die Augen auf und zieh den Kopf aus dem Sand. Dann weißt Du, wo du bist.»
Mit diesen wahrhaft weisen Worten verschwand der Liebe Gott wieder aus der Geschichte und überließ Kampmann und den Freunden der Fährnis alles Weitere – wie immer, möchte man fazitierend beigeben. Trotz seines großen Widerwillens folgte Kampmann der Aufforderung, schaltete sein Oberstübchen ein und dachte angestrengt nach. Dressler hatte den Zug aus Licht gebaut, so viel war gewiss. Und das wurde Kampmann klar, nachdem das Licht in die Dunkelheit und wieder ins Licht gewichen war. Auf diese Weise konnte seine Flucht vorgetäuscht werden. Denn es musste ja allen klar sein, dass ein paar der Temporalverbrecher aus den Reihen der Whermacht ihre Fühler nach allen Flüchtigen ausstrecken würden: spätestens seit dem Vorfall an der Sammelstelle. Also musste den Typen etwas vorgegaukelt werden. Wie Dressler das wieder hinbekommen hatte, war ihm ein Rätsel. «Der Mann hat es eben voll raus», dachte Kampmann voller Respekt. Jetzt also waren sie in diesem scheinbaren Zwischenreich, in dem es so wirklich, unwirklich, so richtig strich- und fadenmäßig dunkel war. Wirklich? War es wirklich dunkel?
Typisch Kampmann. Er hatte wieder einmal vergessen, die Augen aufzuschlagen. Hinter den Lidern brannte es rötlich. Er schien das Blut zu sehen. Und wieder erinnerte er sich an die Anweisung vom Lieben Gott, die Augen zu öffnen. Das ist eine ziemlich dumme Eigenschaft von Kampmann. Immer wieder vergisst er die kleinsten Verrichtungen, die er sich selbst oder die ihm andere auftragen. In diesem Fall hieß die Parole: «Augen auf!» Er befolgte mit erheblicher Verspätung den Befehl und wunderte sich über die Helligkeit, die Flecken des Sonnenscheins und das viele Grün, das er wahrnahm. «Bin ich am Ende eine Raupe», fragte er sich und dachte: «Och nee, nicht schon wieder». Doch da war es zu spät, und der Zirkus ging von Neuem los. [Fortsetzung folgt vielleicht]
Soundtrack: Billie Eilish, Happier than ever, Darkroom B0033834-01, 2021