Du musst kein Dude sein, um im Jahr 2005 einen Regionalzug zu besteigen und den beschwerlichen Weg von der Saarpfalz durch die lieblichen Täler des Pfälzischen Großen Chingan bis in die Rheinebene zu meistern. Ein bisschen Kraft und Chuzpe brauchst Du, um Dein Fahrrad über die steile Treppe in den uralten Bahnwagen zu hieven. Dann lehnst Du das Stahlross an die Wand im Fahrradabteil und bittest alle Götter des Universums, dass der Umstieg in Pirmasens Nord reibungslos läuft.
Niemand hat die Absicht, auf dem schäbigsten Bahnhof am Fuße des Pfälzischen Großen Chingan auch nur eine Minute länger als nötig zu verbringen. Dort gibt es nichts. Kein Kiosk, keine Sitzbank, kein Klo und keine Aschenbecher. Die Türen des alten Bahnhofsgebäudes sind mit Brettern verhauen. Es riecht nach kalten Kippen und Urin. Ein Glücksfall, dass in dem Umstiegsbahnhof am Fuß des Pfälzischen Großen Chingan stets ein kalter Wind weht. Dort gibt es kaum Gebäude, die ihn aufhalten könnten. Ein Standalone-Umstiegsbahnhof. Das nächste belebte Gebäude ist einen knappen Kilometer entfernt, ein Bordell. Es ist nicht schön, in Pirmasens Nord zu stranden und eine Stunde auf den Anschluss zu warten. Einst erlebtest Du Dein Umstiegswaterloo, indem Dir der letzte Anschlusszug buchstäblich vor der Nase wegfuhr. Du übernachtetest im Zelt auf einer Bauschuttdeponie gleich nebenan.
Jetzt jedoch schaffst Du es, The Gap, den kühnen Sprung von Gleis drei nach Gleis zwei, und schon sitzt Du im Anschlusszug nach Landau. Auch dessen Wagen sind alt. Auch dessen Treppen erklimmst Du, lehnst das Fahrrad im dafür vorgesehenen Abteil, das sich im ersten Wagen befindet, an die Wand, bindest es fest, klappst einen der Sitze herunter, atmest tief durch. Lass fallen Junge, lass sacken. Puuuh. Vorbei fliegt der Wald. Bahngeräusche aus Zeiten, die man für längst vergangen hielt. Hier live und in echt. Als habe man die Schienen nicht mittels spezieller Schweißtechnik zu einem Ganzen gefügt, und alle paar Meter flattern die Radreifen Eisen auf Eisen und erzeugen bei den Fugen dieses typische Zuggeräusch, das man nur aus alten Filmen kennt. Etwas, nein vieles, ach was, einfach alles klappert. Die Diesellok rußt bis ins Abteil. Motor brummt. Wind säuselt. Ein kleines Klappfenster ist geöffnet. Erst jetzt schärft sich Dein Blick, sondiert den Raum, den Wagen, die gescratchten Fenster. Menschen gaben wohl alles, um mit gebrochenen Wetzsteinen das gläserne Einerlei der Zugfenster in ein derbes Kunstwerk zu verwandeln. Hakenkreuze, durchkreuzte Hakenkreuze, Herzen, Anarchiezeichen, Sprüche. Die Schäbik allen Seins in einem dahin bummelnden Zug durchs wilde Grün des Pfälzer Walds (aka Pfälzischer Großer Chingan). Im Gegenlicht erkennst Du, dass schon vor Dir Menschen diesen Zug benutzten. Eine leere Bierdose rollt im Spiel der vielen Kurven, die der Zug nimmt. Papierfetzen, klebrige Pfützen auf dem Boden. Locomotive Breath von Jethro Tull kommt Dir ins Ohr.
No Way To Slow Down.
Erst jetzt fixierst Du ein schäbiges Graffito in einer Ecke neben dem Klo, Edding gekritzeltes Etwas und Du liest:
Eine Muschi mit Diziblin.
Wenn Du Jahrzehnte später (am 1. Oktober 2021) immer noch am Leben, viel erlebt in der Zwischenzeit, die letzten Kilometer zum Metalabor Nummer sechs die steilen Hänge der Hessischen Wudang Berge hinaufradelst – längst ist es dunkel, Dein Tag war lang, Du schwitzt, im Tal röhren die Hirsche, kein Mensch weit und breit – bist Du ein Dude geworden.
Thema des eloquenten Metalabor-Treffens, an dem sich gut zwei handvoll Dudes und Dudinnen zusammen finden werden ist ausgerechnet Disziplin. Ein Lächeln umschmeichelt Deine Lippen, als Du Dich rückbesinnst der Begebenheit im Pfälzischen Großen Chingan. Ein Graffito, das in Deinem Hirn bald zwei Jahrzehnte überlebt hat und dessen Träger, die Wand des Bahnwaggons mit einer steilen Treppe, wohl schon längst verschrottet wurde.
Wer mag das wohl geschrieben haben? Was wollte der Mensch damit sagen? Eine Muschi mit Diziblin. Hat er das absichtlich falsch geschrieben? Litt er unter Legasthenie? Saß ihm der Schalk im Nacken? Der Mensch, der das graffitierte, war sehr wahrscheinlich ein Mann. Oder ein Männlein. Vielleicht ein verschmähter Buhler (oder ein Buhlerchen), der sich den Frust von der Seele kritzeln wollte, weil eine Dame ihm den erhofften Geschlechtsverkehr verwehrte.
Wir wissen es nicht.
Wir werden es nie erfahren.
Das Graffito wäre längst vergessen, wenn nicht jemand, moi même, staunend durch den Pfälzer Wald, besser gesagt den Pfälzischen Großen Chingan getourt wäre, es entdeckt hätte, es sich gemerkt hätte und nie wieder von diesem doch banalen Eindruck losgekommen wäre.
Eine linke Gehirnhälfte mit Diziblin.