Kaibab National Forest
Unversehens befand sich Büttner in dieser Hütte im Kaibab National Forest. Kurz schaute er sich um, suchte nach einer Sitzgelegenheit. Bohl und Reuss besorgten, wie schon in den vergangenen Tagen, Miller Bier. Dieses Mal wollten sie das 48er Pack finden.
Auf dem Tisch neben Büttner lagen ein paar Zeitschriften. Er nahm die oberste Zeitschrift zur Hand und begann darin herumzublättern. Whole Earth Katalog nannte sich das Blättchen und bot dem Leser allerlei nützliches wie unnützes Zeug an. Mit Interesse las Büttner die Anzeige über eine einfache Hütte. Irgendwer bot einen kompletten Bausatz an. Dazu war eine Hütte abgebildet, wie die, in der Büttner gerade saß.
Durch die halboffene Tür sah Büttner mit den Augen eines Ich-Erzählers den lehmigen, aufgestampften Weg. War Büttner dieser Ich-Erzähler, der in einem Abort saß und den Schatten des Körpers des Kutschers wahrnahm? Oder war es Buffalo Bill, den Büttner wahrnahm, vermeintlich in einer Hütte sitzend, die ein Abort war?
Neben der Hütten-Anzeige befand sich ein Bericht über das Joghurtbechertelefon, wie es im The Well von den ersten Nerds benutzt wurde. Das konnte kein Zufall sein, dachte Büttner. Er sah seit einiger Zeit in allem Botschaften von jedem und vor allem von Kampmann. Er vermisste ihn.
Was Büttner nicht wusste, war, dass er in Dresslers Baracke saß, in der Kampmann mit Dressler sprach, auf der Suche nach Büttner. Er saß also nicht in Peter Weiss Erzählung Der Schatten des Körpers des Kutschers. Erleichterung stieg in Büttner auf und er seufzte still vor sich hin. Ich ist keine Erzählung! Und einen Darmverschluss habe ich auch nicht.
Durch die Hintertür kam Thoreau hereinspaziert, der hochnäsige und geschwätzige Aussteiger, der später zu weltweiter Berühmtheit gelangen sollte. Langlebiger als die von Andy prophezeiten 15 Minuten. Thoreau fluchte, weil er sich beim Holzhacken einen Splint unter den Daumennagel gejagt hatte. Kaczynski schaute sich das Malheur an, murmelte Unverständliches und pustete zart auf den Daumen. Dazu sang er heile heile Gänsje.
Kaum war der Schmerz abgeklungen, da jagte Thoreau Kaczynski zur Hütte hinaus. Er solle sich seine eigene Hütte bauen. Thoreau nahm Büttner den Whole Earth Katalog aus der Hand und warf diesen Kaczynski hinterher. Dieser fluchte und beschimpfte Thoreau aufs Übelste und schrie, dass man noch von ihm hören werde.
In der Edition Nautilus erschien zwischenzeitlich das Buch über den UNA-Bomber. Mehr noch. Im Grunde war Das Netz eine codierte Geschichte der RDS, wenn nicht sogar von der USA Vortragsreise von FfK. Davon wollte Lutz zwar nichts wissen, aber wen interessierte das schon? Fast schon trotzig veröffentlichte Lutz im Anhang seines Buches das Manifest des UNA-Bombers.
Büttner wurde von Thoreau in ein abgedunkeltes Nebenzimmer gebeten. Dort befand sich ein riesiger Wassertank. Eine Leiter führte zum oberen Rand des Tanks. Büttner erklomm die Leiter und blickte auf den bis zum Rand mit Wasser gefüllten Tank, in dem ein IRA-Kämpfer in Rückenlage schwamm. Genauer gesagt trieb er auf dem Wasser. Thoreau wies Büttner an, dass Wasser mal zu kosten. Büttner tauchte einen Finger hinein, und leckte dann das kühle Nass ab. Angeekelt verzog Büttner das Gesicht. „Na“, sagte Thoreau, „schmeckt salzig, gell?“ „In der Salzbrühe kann der Dreckskerl nicht untergehen“, meinte Thoreau lakonisch. Der IRA-Mann, den Büttner noch vor kurzem in San Francisco gesehen hatte, war hier nun einer Tortur ausgesetzt, die später von den Hippies vom Well Floating genannt würde und das als Wellness-Programm für Furore sorgen würde. Vorerst aber war es eine teufliche Methode der sensorischen Deprivation, wie sie die CIA Schergen so gerne erfanden.
War Thoreau ein Scherge der CIA? Was wusste er vom COINTELPRO Programm des FBI? Welche Botschaften hatte er in Walden versteckt?
Im Impressum des Whole Earth Katalog hatte Büttner die Namen Burson Cohn & Wolfe gelesen. Spontan griff er zur Mini-Konsole seines WASTE-Emulators und recherchierte über diese Herrschaften. Burson Cohn & Wolfe waren eine weltweit agierende Propaganda Institution und der RDS schon länger ein Dorn im Auge. Selbstredend glaubten weder Büttner noch die RDS an eine Verschwörung oder daran, dass die Herren von Burson Cohn & Wolfe die Weltherrschaft erringen würden wollen. Allerdings sollte sich viele Jahre später eine Pandemie ereignen, die weltweit solcherlei Verschwörungstheorien zu Hochkonjunktur verhelfen würde. Und das, obwohl jedes Kind weiss, dass die Mutter aller Verschwörungstheorien braune Scheisse ist.
Die Freunde vom BTTP (Better Think Tank Projekt) nahmen auf bitten der RDS den Kontakt mit Stewart auf, der The WELL gegründet hatte, um zu erfragen, ob alles so gemeint war, wie es scheint. In einem Interview mit BTTP, das später Pörksen zugeschrieben wurde, bezeichnete sich Stewart als Hacker der Zivilisation. Was er damit genau meinte, blieb unerklärt. Aber auf solche „armen“ Theorien der Hippie-Nerds aus dem Valley hatte schon Adrian Daub aufmerksam gemacht. Stewarts Vater hasste das Interview, denn er meinte, das hätte es am MIT so nie gegeben.
Hatte Bohl nicht gesagt, dass sie noch zur Genüge dem militärisch-industriellen Komplex begegnen würden?
Büttner sehnte sich danach, dass die Freunde mit dem 48er Pack Miller Bier zurückkämen und ihn aus dieser elenden Hütte befreiten, die langsam und unaufhörlich zu einem Alptraum wurde.
Thoreau jubelte laut auf, als er via EAR erfuhr, dass Penguin Random House sein Walden verlegen würden. „Ha“, rief Thoreau aus, „jetzt habe ich die Welt im Sack und fortan wird jegliches Leben im Wald unter meinen Vorzeichen stehen. Jede kleine Flucht, jedes Mikroabenteuer, wird sich Walden zur Vorlage nehmen“.
Büttner war klar geworden, dass er es zum einen mit einem Irren zu tun hatte und zum anderen, dass Abenteuer unweigerlich in den Tod führen. Nur Irre und Großstädter stürzen sich in Abenteuer. Der Dude hingegen unternimmt gelegentlich Expeditionen.
Unterdessen unterstützte Edward Bernays Random House und Thoreau und betrieb eifrig Öffentlichkeitsarbeit. Er engagierte dazu die Eheleute Clem Whitaker und Leone Baxter, deren Agentur Campaigns Inc. hieß. Den Namen hatten die Einfallslosen von der RDS Kampagnen Agentur Capaigns Ink! zweckentfremdet. Was für eine Mischpoke, dachte Büttner.
Auf das Konto von Bernays ging die Kampagne Express yourself, die von der Hippie-Kultur Amerikas, von den West-Coast Gammlern, Surfebanden und Nerds begeistert aufgegriffen und als Mantra bis heute am Leben gehalten wurde. Das allerschlimmste aber war die unreflektierte Übernahme und das Wiederkäuen der Parole durch die Popkultur. Allen voran Madonna und Charles Wright. Dessen Interpretation schaffte es sogar auf die Lautsprecherwagen der Autonomen, wenn sie durch die Großstädte Deutschlands demonstrierten.
Nach all der Aufregung wurde es stiller und beschaulicher in der Hütte. Die Freunde waren noch immer nicht zurück. Aus den Ritzen des Holzverschlags vernahm Büttner Stimmen. Er meinte die Stimme von Kampmann und die von Dressler zu hören. Oder waren es Stimmen aus einer Veranstaltung der Long Now Foundation, die hier im Kaibab National Forest stattfinden sollte? War Büttner Zeuge einer Zeitreise? War er selbst ein Temponaut? Und woher kamen bloß die Stimmen in seinem Kopf? Was, wenn es sich um diese verflixte Konversationskunst handeln würde?
Echte Stimmen? Echte Namen? Was für ein grandioser Blödsinn. Wer glaubte im Ernst daran, dass es im Netz echte Namen gibt? OK, die Namen könnten echt sein. Aber nicht zwingend in Bezug zu echten Personen. Das wusste doch jeder Hund, so ein blöder Internet-Witz, der später Meme genannt werden würde. Oder war das alles einfach nur ein endloser Sommer Trip der Merry Prankster, auf den sie Büttner, ohne das er es wusste, mitgenommen hatten? Liebend gerne wäre Büttner diesem endlosen Sommer um die Welt gefolgt.
Jäh wurde Büttner aus seinen Tagträumen gerissen. Der alte Filzhutträger kam in die Hütte, nahm sich den Whole Earth Katalog zur Hand, setzte sich neben Büttner auf den Donnerbalken und ließ Fett-Eintopf-Winde fahren. Dazu murmelte er jedes Böhnchen gibt ein Tönchen. Büttner reichte es nun endgültig. Überstürzt stand er auf, würdigte Beuys keines Blickes und verlies die Hütte. Das Leben im Freien, oder Friluftsliv, wie die Freunde aus Norwegen es so melodisch nannten, wollte er dann doch dem Hüttneleben im Walde vorziehen.
Draussen wurde es Abend. Die Sonne streckte sich langsam hinter der Hütte dem Horizont entgegen, um alsbald dahinter zu verschwinden. Buffalo Bill ritt müde auf seinem Gaul durch den Wald, Thoreau ritt hinter ihm her und grüßte kurz.
Die Freunde hatten das Lagerfeuer entzündet und stimmten in ein frohes Willkommen, als sie Büttner erblickten. Das 48er Pack hatten sie nicht gefunden. Für heute würde das 24er Pack aber reichen. Sie waren ja nur zu dritt.
Soundtrack: Fugazi, Waiting Room, Fugazi, Dischord Records, 1988