Doppio

Kampmann schickte per Transceiver-Modul in seinem Quattrocorder via Randomized Epidemic Siren’s Twinkling (REST) die Nachricht von seiner Ankunft in der Toskana an Dr. Holger Karsch. Eine Antwort erwartete er nicht. Aber Hauptsache, die Infos waren unterwegs. Genau wie er. Er sah sich noch einmal um. Felsen, meterhoch, ein grünes Dach, Sonnenstrahlen drangen nicht bis zum Grund, auf dem er stand, durch. Hinter ihm hing Moos, oder waren das Algen?, in Vorhängen von der steilen Steinwand herab. Der Wasserfall von einst war verschwunden. Ein Bächlein sah er stattdessen. Das war beinahe versiegt, aber es gab einen stetigen Zufluss, den er als sanft, mild und dennoch köstlich erfrischend interpretierte, aus dem Fels kommend, der mit einem unregelmäßigen Halbrund in seinem Rücken abschloss. K. drehte sich um und sah den Stein entlang, sah dieses hängende Grün, sah in das Wasser, das sich zu seinen Füßen gesammelt hatte. Alles wirkte so frisch auf ihn ein, als ob hier seit langer Zeit niemand gewesen war. Er fühlte sich mit einem Mal sehr durstig. Kein Wunder, schließlich lagen so viele Anstrengungen hinter ihm. Also ging er in die Knie, formte aus seinen Händen eine Schale und trank.

Inmitten des Grün gelandet. Foto: Familie Kampmann

Als er seinen Durst gestillt hatte, wurde ihm klar, dass er in dieser Oase nicht ewig bleiben konnte. Los ging’s, raus aus dem Wasserloch im Berg. Während er durch die Landschaft kraxelte, machte sich bei den Anarchisten im nahen Volterra die Nachricht breit, dass ein Zeitreisender angelandet sei, der dringend der Hilfe bedurfte. Mit ein wenig Geschick und dem Transceiver schlug sich Kampmann erst einmal bis Collemontanino durch. In den Taschen seiner Funktionskleidung, die ihm Dressler noch vor der Temporaltour aufgenötigt hatte, fand er einen Kassiber mit ein paar Euro-Geldscheinen. Er setzte sich an einen der wenigen Tische vor die Bar in der Via C. Mostardi 57, bestellte einen Doppio und atmete tief durch.

Kampmann schaut beim Doppio auf die Via C. Mostardi in Collemontanino. Foto: Familie Kampmann

Was war die Lage? Er konnte auf jeden Fall mit Hilfe rechnen, denn da waren Maurizio und Il Swizzero. Aber er hoffte inständig, dass nicht wieder wie damals, als er mit Büttner nach Zellen der Brigate Rosso suchte, die Anarchisten anrückten, um alles durcheinander zu bringen. Der wichtigste Kontakt war sein Maurizio. Den musste er erreichen. Kein Problem, denn es war ausreichend, einfach oben in Casciana Alta auf den Marktplatz zu gehen. Maurizio ist immer da in der Gegend, sobald es hell ist. Er trank aus, zahlte und fragte dann einen alten, faltigen Fiat-Fahrer, ob der ihn mitnehmen könne.

Tiefenentspannt sitzt Kampmann neben dem alten Mann, der ihn nach Casciana Alta bringen wird. Foto: Familie Kampmann

K. war immer wieder überrascht von der Freundlichkeit dieser Leute. Und los ging’s geschwind die kurvige Straße durch Alleen, begleitet vom fixem Hell-Dunkel-Rhythmus, der mit geheimen Lichtmorsezeichen Botschaften der Liebe zum Leben verbreitete und dabei im Gehirn auf unerforschte Weise Spuren der Gnade hinterließ. Währenddessen plauderte der Alte ohne Punkt und Komma, und seit Jahren fühlte sich K. das erste Mal wieder richtig wohl. Vergessen die Intrigen der Night&Meer GmbH. Vergessen auch die Odyssee durchs Dritte Reich. So wohl ging’s ihm, dass er Raum und Zeit vergaß und sich in einen Hund verwandelte und in ewiger Gegenwart genoss. [Fortsetzung folgt vielleicht]

Soundtrack:The Blue Nile, Hats, Linn Records, LKH2, 210241-630, 1989