Kampmann weg, Karsch weg, Thiel weg, Q. weg: alle fort/da. Nur Büttner ist noch da/fort. Was ist mit der Zeit los? Was auch immer. Schuld und Sühne? Im Wartezimmer steht ein geriffelter, großer Zylinder mit einer Höhe von geschätzten 1,30 Metern. Er hat die Anmutung einer Tankstelle. Das ist bitte als «Geschenkpapier» zu denken. Zu einem Metaphernpaket geschnürt. Dieses Gefäß bietet eine Auswahlmöglichkeit zwischen «Ungekühlt» links, «Kalt» rechts. Eine Schweizer Firma stellt sie kostenlos in derartigen Räumen auf. Die weiße Zapfsäule offenbart noch weitere Beschriftungen. Wir lesen zunächst einen Produktnamen: «Aquarel» lautet der. Rechts neben dem Logo, es zeigt eine dreiköpfige Familie (Vater grün, Kind rot, Mutter blau) schwungvoll, in abstrahierten Vektoren, nimmt man noch einen aufklärerischen Text wahr. Schlagzeilenfrage zum Tage auf dem herrlich schön bunt schillernden OLED-Schirmchen: «Heute schon die hinreichende Menge Aquarel getrunken? Aquarel: Dein Leben. Und wir für Deins. Lebe gesund. Trinke Aquarel. Es lohnt sich. Immer!» Darunter dann eine breite Kolumne fix angeschraubt. Kann ja mal der Strom ausfallen, und sicher ist sicher. Und auch die behauptet, man müsse mindestens anderthalb Liter «Aquarel» täglich zu sich nehmen, um gesund zu bleiben. Dieses Quantum solle sich ein Erwachsener zusätzlich (zu was?) einflößen. Eine Codenummer rundet das kostenfreie Angebot für die Patienten ab. Wir werden nicht daraus trinken. Das ist gewiss. Wie kann man vertrauen? Wir wissen, dass die Wassersituation hier oder in der Schweiz genau so unwägbar wie überall ist, und das verunsichert uns alle schon seit Jahrzehnten: Wasser heißt «Aquarel», seit die Schweizer hierzulande die komplette Versorgung für den europäischen Kontinent übernommen haben. Erst das Geld, dann die Güter. Logo. Wir blicken allerdings ganz allgemein eben nicht mehr vollständig durch; keine Ahnung, warum dieser Apparat überhaupt hier stehen darf. Wasser ist schon eine gefühlt ewige Zeit teurer als etwa jegliche Form von Energie. Und die meisten von uns können sich keinen Anschluss an das ehemals öffentliche Wasserzirkulationswerk leisten; das haben die da oben ja für sich mittlerweile. Klimawandel. Verstehst Du doch, oder? Wir, die wir den Kopf für Euch hinhalten. Also bitte, was würdet Ihr denn machen?
«Aquarel». Ist das etwa kein Wasser? Woher stammt die Flüssigkeit? Seitdem die gigantischen Reservoire in der früheren Dritten Welt geleert und verseucht worden waren, ist die Herkunft jeglichen Wassers ohnehin ungeklärt. Gewiss ist, die antiken Quellen aus ehemals vereistem Mars-Wasser sprudeln stetig, dennoch wäre es untypisch, wenn sich keine Schweizer Firma bereitfände, die hohen Gebühren an die WRG abzuführen. Eigentlich möchten wir keine Details wissen. Es muss nicht stimmen, aber wir hören stets dieselben Nachrichten: Auf der Erde ist Wassergewinnung unrentabel geworden. Clifford, Darling, please don’t live in the past. Meine Urgroßmutter vermachte mir einen Tropenkoffer aus Aluminium. Darin befanden sich allerlei antiquierte Instrumente und papierne Vermächtnisse. Genau kann ich mich nicht daran erinnern, wann ich diese Box das erste Mal zu Gesicht bekam. Das war alles noch vor dem Wandel. Als Schnittmengengenerationsmensch verliere ich wie viele andere auch die Übersicht. Geriffelt, groß und schwer. Schwarze Riemen, diese Push-Pull-Haken, mit denen der Deckel dann wirklich fest sitzt, selbst wenn der vorgestellte Monsun, der Sandsturm, die Havarie über dich hereinbricht. Hier jedoch ist Ruhe, ein enormer Raum. Holz überall. V-Modell rückwärts. Macht mein kleiner Kopf. Agil dagegen. Heimlich geöffnet. Erst einmal war ich mit diesem Lagensystem überfordert.
Öffne die Box. Ja, irgendwann habe ich es kapiert. Es ist bis auf den heutigen Tag genau so. Meine Hände werden zu Schwämmen, weil die Aufregung, die Neugier vom gesamten Körper Besitz ergreift und Stoffwechselprozesse in Gang setzt, die Poren an Stellen öffnet, von denen ich meinte, dass es sie gar nicht geben sollte. Das bin ich nicht gewohnt. Wenn der Körper selbst denkt, bin ich irgendwann, und das ist recht bald, überfordert. Wie ein Individuum mit dissoziativen Erlebnissen umgehen soll, wird nirgends gelehrt. Wie also soll ich das managen?
Neulich saß ich in einer Gastwirtschaft, und am Nebentisch redete jemand über seine Prüfungen. Ein Studierender, der sich als Realist bezeichnete. Und er wiederholte und wiederholte seine Vorstellung von seiner Selbsteinschätzung. Lou Reed im Hintergrund. Ich weiß, was ich kann, es ist eine Schande. Ich bin Realist, ich weiß, was ich kann. Ein Bekenntnis zur Unsicherheit. Jetzt warte ich auf den Spatzen. Der hat die Lösung für vieles. Na ja, lange Rede, kurzer Sinn: Naturgemäß habe ich es gelernt, diese Box zu öffnen. Gelernt habe ich, die verschiedenen Schichten herauszuheben. Mit jeder offenbarte sich ein neues kleines Universum. Obenauf diese Kamera. Es gibt Bilder, auf denen Beduinen beieinanderstehen. Ich sah Aufnahmen aus Paris, dem Louvre, Trocadero, aus der Provence, aber die lagen alle an anderen Orten, dennoch wusste ich, dass dieser alte Mann dieses Leben mit dieser Kamera gelebt hat. Ein ziemlicher Klumpen Metall war das. Karsch? Bist Du da? Und irgendwann ist man erwachsen und dazu in der Lage, die Gebrauchtmarktpreise für den gesamten Krempel zu tarifieren. Karsch, bist Du da? Was ist das, wenn Du auf dem Boden dieser Kiste die Eintrittskarte eines David-Bowie-Konzerts findest? Jetzt aber sind alle fort. Und ich sitze in diesem Raum. Vor mir dieser Zylinder, und ich wundere mich über den Zustand der Welt. Hatten wir das so gewollt? Ist ja egal, ob Aquarel nun aus der Schweiz oder sonst woher kommt. Es ist, wie es ist. Und ich komme hier nicht mehr klar, da ich mich in einer Erinnerung gefangen fühle. Da komme ich dem Fantasma nicht mehr auf die Spur. Schon hat mich die Wirklichkeit wieder auf den Boden zurückgeholt. War ich nicht woanders? Wo ist der Schaum? Fort/da. Wie immer schon. [Fortsetzung folgt vielleicht]
R.E.M, Automatic for the People, Warner Bros. Records, 9362-45055-2, 1992