«Meine Herren, ich danke für ihre Zeit und Aufmerksamkeit», flötete ein sichtlich zufriedener Bröno Selfmachteger-Spretz. Im Zeitfenster des Immerwährenden Reichstags hatten sie sich am Rande in Neu Shanghai im Heuport am Dom getroffen, um bei Schampus und Kabeljau die geopolitische Kartierung des Kontinents zu überdenken und Korrekturen an der bisherigen Aufteilung vorzunehmen. «Wir sind uns also einig, dass es über die Rolle und die Funktion von Nationalstaaten derzeit keinen Grund zum Streit geben darf.» Geraune am großen, ovalen Tisch. Hier, in einem der uralten Gemäuer des ehemaligen Regensburg, hier gegenüber vom Dom, in dem einst Ratzi-o sein inquisitorisches Strippenziehen mit Müller-o, dem eigentlichen Inquisitor aus Ratzi-os Gnaden, ausheckte, wurde endlich wieder Geschichte geschrieben, dachte Bröno. Bald also wäre es so weit. Bald wäre der Sprawl bereit und reif für die Übernahme. «Und bevor ihr nun alle abdreht: Ihr wisst, dass wir die RDS ratzikohlkahli auslöschen müssen, oder?» Coppelius rieb sich die Hände. Der Rest der noch übrig gebliebenen Zeitnazis hatte die Telefone gezückt und twitterte, was das Zeug hielt. Egon Murks spielte sich derweil an Körperteilen herum, wovon wir alle nichts wissen wollen. Er war vor ein paar Minuten aufs Klo geschlichen, hatte genug gespielt, dann den Einliter-Flachmann gezückt, und nachdem er nun die Hälfte des Vodka Putinskaja heruntergeschlürft hatte, riss er das Waschbecken aus der Wand und schleppte es in den Gastraum. «Hier, hier habt ihr meine Meinung dazu», brüllte er und knallte das Porzellan auf den schweren hölzernen Tisch. Der nicht zerbrach, wie Murks es sich erhofft hatte, und alle Anwesenden brachen wieder einmal in heftiges Gelächter aus. So erging es ihm immer. Alle krümmten sich vor lachen: Brüderchen Ratzi-o, Chorleiter des grausigen Herrn, und Müller-o feixten mit Thiel-o und Kurzweil-o, stupsten sich gegenseitig die Ellbogen in die Seiten. Bis es ihm zu bunt wurde, und Bröno ermahnte alle zur Ruhe. «Silentium», schallte es durch die Gaststube. Also gaben sie alle Ruh. Der kleine Ausbruch war jedoch notwendig, da sie sich mit Brönos Entscheidung, die Nationalstaaten erst einmal bestehen zu lassen, schwer anfreunden konnten, also war ein bisschen Triebabfuhr genau das Richtige.
«Leute, es wird Zeit, dass wir jetzt und sofort überall aufräumen. Müller-o soll sich Kampmann an die Fersen heften. Ratzi-o kümmert sich um Büttner. Thiel-o nimmt sich Q. vor. Der Rest kümmert sich um den Rest. Also und so weiter. Noch Fragen?» Nein. Es kamen keine. Was allerdings Bröno nicht wissen konnte: Kampmann war bekanntlich bei der Lieben Gott in den Schaumbädern des Glücks. Das wiederum hieß, dass er für eine gewisse, eher unbestimmte Weile unsterblich war. Wie lange die dauerte? Keine Ahnung. Er hatte sich zwar zwischenzeitlich in einem Dorfbahnhof bei Beverungen in Ostwestfaen re-materialisiert, aber nur um festzustellen, dass er wieder einmal in einer Zeitschleife «gefangen» war. Daher kritzelte er nur schnell für die Freunde der Fährnis ein paar Feynman-Diagramme an die Wand der abgelegenen Haltestelle auf der Strecke gen Göttingen, damit die zumindest über die Physik herausbekommen konnten, was Phase war. Und Büttner? Der wusste das ja bereits alles, denn er hatte Gauß in Göttingen längst über KUGEL* kontaktiert und war im Bilde. Daher konnte er in aller Ruhe die strategische Planung angehen. Er hielt sich aktuell bei den Dudes im Grand Hotel Europa auf und beruhigte die Kolleginnen und Kollegen. Denn die drifteten angesichts der Nachrichten um Tate, Murks und Co. wieder einmal komplett ab.
Büttner gab allen Stifte, Postkarten und die Freimarken dazu. «Schreibt Derrida, schreibt Derrida, schreibt ihm sofort, zackzack! Und schreibt ihm, schreibt ihm: wie Bettina einst dem Johann», animierte Büttner seine Freunde. Denn der wusste, dass es nur über die buchstabierte Sendungen gehen könne. Tristero und Trystero, T und T, denn Weishaupt hatte es damals schon angedeutet, als er den Pfad der Tugend gen Ingolstadt verließ. Es geht alles nur jenseits der und über die je verschiedenen Sendungen. Denn es ist die Physik der Allgemeinen Netzwerkdurchsetzungstheorie: dass PILZ, REST, WASTE, KUGEL* und wie ihre Kanäle auch hießen… dass all’ diese Kanäle die Abwesenheiten in Platons Pharmazie nahe dem Limburger Dom in der Grabenstraße niemals zu füllen verstünden. Nebenan ist ja die Linguisterie. Denn das Sagen ist wie eine offene Tür. Und die führt wohin? In diese Leere, die… Aber geben wir uns Mühe beim Dechiffrieren. Nun, so erfanden die Freunde der Fährnis im Grand Hotel Europa allerlei Kryptisches und Protokryptisches. «Kampmann, wo immer du bist, sei gewiss: Die Freunde der Fährnis lassen dich niemals im Stich», prostete Rabanus in die Runde. Büttner konnte nur bekräftigen. «Wer schreibt, der bleibt», meinte er, still in sich hinein lächelnd. Denn er wusste, dass das die Waffe war, die ihnen helfen würde, den Fängen der Zeitnazis zu entkommen und ihnen sogar noch etwas entgegenzusetzen.
Währenddessen hatte in Neu Shanghai aber schon längst das Wesen oder Unwesen der Juristen die Überhand gewonnen. Verträge waren geschrieben worden. Es wurde plädiert, und in der Sprache ist die Sprache Sprache. Wer kann es denn besser als Juristen? Nix Pharmazie, nix Linguisterie. Wenn eines die Welt verändert, dann sind es Gesetze, und wer schreibt die Gesetze? Juristen. Versteht sich doch von selbst, oder? [Fortsetzung folgt vielleicht]
* KUGEL: Kreuzweise Unterhaltung Gelegentlicher Ereignis-Lichtspieler
Soundtrack: Scritti Politti, Songs to Remember, Virgin, Rough Trade 207 341-620, 1982 (Reissue 1985)