Sie, ich, wer? Geht es in dieser Gesellschaft denn nicht mehr, die Vernunft mit dem Wecker zum Aufwachen zu bewegen? Sie denkt an den Großvater und an den Urgroßvater. Sie alle hatten in der Tradition der Drifter ihren Weg durchs Leben genommen und waren selbstbestimmt und doch durch die Rahmenbedingungen nur innerhalb derselben frei gewesen. Jetzt kehrte sich vieles über die Generationen hinweg ins Gegenteil. Wider die Vernunft feierten Magier und Sterndeuter fröhliche Urständ. In der Endphase des Lebens von ihrem geliebten Großvater hatte es begonnen. Wie ein Paradox musste es anmuten, dass die wohl abstrakteste und vernuftorientierteste Wissenschaft überhaupt, die Mathematik, eine kybernetische Umweld [1] erlaubte, die aus abstrahierenden und entfremdenden Bildern leichtgläubige Subjekte formte, die in Redeweisen orakelten und zweifelhaften Führern es ermöglichte, die Errungenschaften der Aufklärung mit den Mitteln der Aufklärung in ihr Gegenteil zu verkehren. Nicht, dass es keine literarische Hilfen zur Gegenwehr gegeben hätte. Bücher wie «1984» oder «Schöne neue Welt» wurden zu Zeiten der Vorväter in den Schulen gelesen. Doch das alles kippte mit dem Internet und bekam Schräglage. Alles diffundierte zunächst ohne Beine ins Netz, alles steuerte das Netz, und die Kapitalströme flossen stets dahin, wo ohnehin schon eine unerhört obszöne Aggregation vorlag.
Kampmann beschloss, sich aus aus dem Staub zu machen. Doch sie wusste beim besten Willen nicht, wie sie es anstellen sollte. Dann erinnerte sie sich an die frühen Philosophieseminare an der Universität der Letzten Dinge auf dem großen Orm-Akkumulator «Hermeneutischer Zirkel», auf dem sie einige Jahre und noch mehr Freisemester sowohl als Kellnerin als auch als Studierende verbrachte. Das Beste wäre doch, den Eigennamen zu verlieren. Sie erinnerte sich an ein Seminar mit Jean B. Den hatte Sylvère L. angeschleppt. Und der war damals, wenn er nicht gerade mit Foucault oder Deleuze im CBGB’s abhing, Dekan der Fakultät für Dudistik der gegenwärtigen Neuzeit. Sie dachte mit Wehmut an die Zeit, als sie alle auf den Ringen des Saturn unmäßige und anstrengende Rennen mit ihren Freestyle Inline Skates abzogen. Grinding away on the thin ice of a new day. Oder so. Sie fühlte die Wärme dieser Erinnerungen. Und sie starrte in den Himmel, der nun jedoch nicht viel mehr als eine einheitliche graue Soße war. Als sie die Arztpraxis verlassen hatte, schaute sie auf ihren rechten Schuh und geriet wieder ins Träumen. Dann neigte sie sich einem Notizbuch zu, das in schräger Ebene immer wieder vor ihrem Auge auftauchte und vor sich hinblätterte. Und sie begann, den Füllfederhalter aus dem braunen Holzkästchen ihrer Vorfahren zu extrapolieren. Während wieder einmal Beduinen mit ihren edlen Kamelen über das Pariser Marsfeld galoppierten. Und sie stand auf der Düne und beobachtete im Sonnenaufgang das frühe Verdunsten des Taus auf den Kakteen und lauschte den Molekülen, wie sie ein energetisches Singsang aufführten, um zu zeigen, dass Aggregatzustände immer auch ihre je eigene Erzählung von der Schönheit der Physik zu performieren wissen. Mit einem Dreh zog sie die blaue Tinte des Lebens in den Kolben des Schreibgeräts und schwang sich auf, erkühnte sich geradezu, gegen jede Weisheit eine Geschichte zu verfassen.
An Bord der «Hermeneutischer Zirkel» hatte sich nichts verändert. Mit einem leicht arroganten Kopfnicken begrüßte Kelly Lee Owens sie und zollte ihr den Respekt, den sie niemals eingefordert hätte. Möglicherweise war Büttner bereits aktiv geworden und hatte mittels KUGEL die wesentlichen Kenndaten übermittelt. Sie wusste nicht, wie lange das Schiff schon im Orbit um eine unrettbare, von Menschen zerschundene Erde kreißte. [2] Aber sie spürte den überwältigenden Weltschmerz. Schleiermacher hatte soeben eine Durchsage zum allgemeinen Verständnis von Autorschaft durchgegeben. Aber Kampmann konnte sich nicht aufraffen. Kam mit der Sprache wirklich der Verlust der Realität? Musste sie das eigentlich ergründen? Ihr Ziel war es doch, dem ganzen Grübeln ein Ende zu setzen und eine Welt zu erfinden, in der Drifter eine Chance auf glückliche Stunden bekämen. «Ich werde Bit9XL [3] befragen. Random, bitte schreibe: ‹Being ephemeral …›.» Und auf der Ausgabe erschien «Bina Femaroll». Und Kampmann deutete dies als die Stimme ihrer Stimmen und sie fällte ad hoc die entscheidenste Entscheidung. «Wenn nicht jetzt, dann nie! Bina Femaroll sei fortan mein Name. Die Maschine hat ihn mir verpasst. David Byrne hat es so gewollt. Er wird es nie erfahren. Das aber spielt keine Rolle.» [Fortsetzung folgt vielleicht]
[1] Umweld, die; ein parafiktionales Kompositum aus der Vorsilbe um- und dem englischen Verb to weld (schweißen, verschweißen). Der/die/das Auto(r)-Ich-Du-Wir-Sie-Er-Es-Ihr gehen davon aus, dass damit an die grundlegenden Axiome der Berechnungen einer Grand Unified Theory angespielt werden. Die Vokabel selbst tauchte erstmalig in den Übersetzungen der multikryptischen Negativkriegserklärungen der Trisolarier auf. S. Cixin Liu, Trisolaris, München (Heyne) 2022, S. 1054-1392. In diesen Kontext gehört ebenfalls die String Theory, die jedoch anders als die Verfasserin mit elf statt zwölf Dimensionen rechnet. Eine kurze Einführung für einen nonfiktionalen Zugangsweg bietet Arnold Hanslmeier, Einführung in die Astronomie und Astrophysik, Berlin, Heidelberg (Springer Spektrum) 32014, S. 534-538. Einen lettraspekulativen Ansatz hat bereits Heraklit verfolgt, um das Universum auszufalten (cf. Heraklit, Fragmente, hrsg. v. Bruno Snell, Tübingen (Ernst Heimeran Verlag/Tusculum) 51965, S. 43, A22). Weiterführend: Johann Wolfgang von Goethe, Wahlverwandtschaften, in: Hamburger Ausgabe, Band 6, Romane und Novellen, München (C. H. Beck Verlag) 121989, S. 243-490.
[2] kreißen, veraltet für in Geburtswehen liegend.
[3] Bit9XL ist der Name eines Geräts zur simmkartenlosen, energieerhaltenden, nicht-entropischen und zwölfdimensionalen Kommunikation.
Soundtrack: Kelly Lee Owens, LP.8, Smalltown Supersound, STS394LPC1, 10.06.2022