Er blickte auf die Landkarte des Mycels. Ständig leuchtete es hier und da vielfarbig auf. Lichter in allen Farben des Regenbogens erschienen in dieser Matrix, projiziert in den dreidimensionalen Raum an Bord der «Hermeneutischer Zirkel». Horst Brand hatte, nachdem Cat und Bina von PILZ auf die 耳の神様 transloziert wurden, die Captain versucht, ins Gebet zu nehmen. Was durchaus wörtlich zu nehmen ist. «Das ist jetzt aber der größte anzunehmende Ernstfall», lamentierte er. «Captain, die Weiber sind desertiert! Dafür müssen sie sich vor dem pangalaktischen Strafgerichtshof verantworten.»
«Machen Sie halblang, Brand», erwiderte die Captain. Sie kannte Brand und wusste, dass er stets übers Ziel hinausschoss. Den Blick auf die Projektion gerichtet, konstatierte sie: «Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass Femaroll und Tschippitea immer noch innerhalb der Reichweite unserer Sensoren sind, und uns ist keinerlei Technologie bekannt, mit der man das Ende überschreiten kann.» «Dass wir etwas nicht sehen, heißt nicht, dass es nicht ist», versuchte Brand, wie immer besserwisserisch-unreflektiert, das Rätsel der verschwundenen Frauen auf philosophisches Proseminarniveau herabzustufen, um es sich so leicht wie möglich zu machen. Mit der Folge, dann umso schärfer seiner Gier nach Bestrafung anderer Ausdruck zu verleihen. Und die Captain, die naturgemäß die unterkomplexen Volten ihres Sicherheitsbeamten kannte, gab dem weder nach noch ging sie darauf ein. «Wir geben sie vorerst verloren. Melden Sie Frauen über Bord. Bevor der Bericht abgeht, will ich ihn lesen. Der Fall ist erledigt. Wir unternehmen alles, um beide unversehrt wieder zurückzubekommen. Ob Ihnen das nun in den Kram passt, oder eben nicht. Haben Sie verstanden?»
Er hatte verstanden. Und wusste die Kröte zu schlucken. Wieder einmal, aber es würde der Tag kommen… Nicht der Tag der Rache, aber sein Tag. Und an diesem Tage käme endlich die Anerkennung, dass er sich ewig mal drei Tage für den Laden krumm gelegt hatte. Sein Selbstbild war natürlich so übertrieben wie überspannt. Man kennt solch ein «Verhalten» vielleicht von subalternen Beamten, eher nicht von Raumfahrern. Aber es gibt zumindest die sprichwörtlichen Pferde vor Apotheken. Und Brand war nicht nur eine Beamtenseele, wie sie im Buche stand, sondern gleichermaßen nicht der schlechteste Sicherheitsoffizier. Mit ihm war’s wie so oft: kein Licht ohne Schatten. Jedenfalls zog er ab, begab sich an das Terminal in seiner Kabine und stolperte über die AR-Einblendung seiner Aktien, lachte sich ins Fäustchen, denn die «Night&Meer»-Werte waren wieder einmal eklatant gestiegen. Das machte ihn reicher, seinen Arbeitgeber ärmer und die Welt ein wenig unsicherer und aggressiver, aber das war ihm vollkommen egal, denn er war alles andere als ein lupenreiner Demokrat. Im Gegenteil. Denn die N&M war die direkte Konkurrenz der RDS; jedenfalls sahen das die Chairmen der N&S so. Der RDS war das natürlich egal, denn diese Organisation ließ sich nicht mit den ökonomischen Zahlenspielchen der universalen Weltraumwirtschaft beeindrucken. Nur kapierte das niemand. Die Welt tickte immer noch nach dem ururalten Fehlschluss namens post hoc ergo propter hoc. Und immer noch gab’s genug Leute, die Kausalitätszwänge konstruierten, da, wo keine zu erwarten gewesen wären. Es ist das Regiment der Scheinkorrelationen und Bestätigungsfehler, so dachte auch Büttner, als er mit die Captain videofonierte. Büttner vertiefte sich in das Mycel, und die Captain meinte, «wenn Du eins und eins zusammenziehst, dann siehst Du vor Dir das Bild der Großen Zusammenhänge: kann man auch Verschwörung nennen.» Büttner hingegen überlegte nicht lange und retournierte mit Gewissheit und Überzeugung in der Stimme: «Es gibt keine Verschwörung. Nur seltsam anmutende Zufälle. Simple Grafiken wie diese hier sollten eigentlich dabei helfen, die innewohnende Literarizität scheinbarer Verschwörungen als Nachbilder hell strahlender Wünsche zu begreifen.» [Fortsetzung folgt vielleicht]
Soundtrack: Caterina Barbieri, Spirit Exit, Light-years, LY001LP (2022)