Er hatte die notwendige Anzahl vom System bestimmter Kalorien zu sich genommen und ging die notwendige Anzahl von Schritten, um seiner festgelegten Gesundheitsoptimierungsstrategie Folge zu leisten. Das fiel ihm natürlich nicht schwer, denn Brand war ein begnadeter Untertan. Es fühlte sich ausgezeichnet an, wenn er per AR seine aktuellen Werte ins Sichtfeld eingeblendet bekam. Sicher ist sicher. Niemand an Bord der «Hermeneutischer Zirkel» wusste, dass er der Sekte der Zählenden angehörte. Die hatte sich im Zuge der technischen und technologischen Entwicklung des 20. und 21. Jahrhunderts auf der Erde gegründet und frönte allem, was mit dem Abzählen zu tun hatte. Die Zählenden waren damals sehr mächtig geworden, denn sie hatten das Geld auf ihrer Seite. Heute weiß kaum noch jemand, was das war: diese bunten Papierfetzen, die ein abstraktes Tauschmedium für Körperkraft und materielle Dinge waren. Den Zählenden war lange nicht klar, dass es die Religion der Religionen gewesen war und sein würde. Sie hatten zahllose Theorien verfasst, die sich sämtlichst um die Numeralisierung allen Lebens, gar allen Seins sich drehten. Es gab eine Zeit, da galten Menschen, die das Papier anderer Menschen verwalteten und der Aufgabe nachgingen, aus, sagen wir drei Papieren sechs zu machen, als Hohepriester. Und alle Bewegungen, die die Menschheitsgeschichte machte, verliefen im Prinzip parallel zur Entwicklung der Religion der Zählenden, aber während die Menschheit mit einigen Krämpfen in allen Körperregionen ihres Unwesens auf diesem Planeten zu mehr Ratio zu gelangen versuchte, pumpten die Zählenden gerade das Gegenteil in die Unzahl ihrer Gläubigen: mit Ratio zu mehr Irratio, Noratio, Abratio. Ein mythisches Zeitalter brach dann spätestens an, als der Hochgeschwindigkeitshandel an die Grenzen des physikalisch Machbaren, nämlich an die Lichtgeschwindigkeit heranreichte und das System aufgrund der Kausalitätsgrenze an den Rand eines gigantischen Paradoxons getrieben worden war. Noch heute reden die Zählenden von ihrem Nirwana. Alles hätte sich aufgelöst: Zeit, Raum, Not, Elend, und alle wären gleich vor der nicht mehr vorhandenen Zeit gewesen.
Während also die Numeralisten durch das Fortschreiten, sprich Verkleinern, von Rechenapparaturen und deren Diffundieren in sämtliche Lebensbereiche die Welt eroberten und erobert hatten, denn irgendwie war es mit den Phöniziern, der damals aufsässigen Sprache in Schrift losgegangen und machte seinen Weg über die doppelte Buchführung in Florenz bis hin zur Anbetung der Volksaktie in den späten 1990-Jahren und darüber hinaus mit den Wirecards und den Lehman Brothers später Ernst mit der Geldherrschaft, zählte alles Zählbare immer mehr. Das nannte man Wachstum. Und das kannte keine Grenze, weil der Geldkörper ein fiktionaler war. Jeder, jede und jedes wollte berechnet werden und ließ sich berechnen. Brand geht dieser Art des Gottesdienstes heute noch mit seinem Kalorienzählen, Schrittzählen, dem Gewichtsregistrieren und dem akribischen Pulsaufzeichnen nach. Und das waren nur seine ganz offensichtlichen Zwangshandlungen. Morgens wog er die Menge an Zahncreme und zählte die Haferflocken in seiner Müslischüssel. Er registrierte natürlich die Anzahl von Wischgesten vor seinem Terminal ebenso wie die Anschläge auf der virtuellen Tastatur. Denn nur das Berechenbare war für einen Geheimdienstler kalkulier- und damit beherrschbar. Er bediente sich im Rahmen seiner groß angelegten Selbstregistrierung und -vermessung der Algorithmen aus den 2010er-Jahren, die Religionsenkel aus dem Silicon Valley, das damals noch einem Staatenverbund angehörte, das sich Vereinigt titulierte, geschrieben hatten. Und hier wird es religionshistorisch spannend. Es gab eine Sekte, die sich scheinbarer Wissenschaft verschrieben hatte, die nannte sich Wissenschaftslehrer. Deren Logos war zutiefst in die Numeralistizistik unserer Zählenden eingeschrieben, ohne dass selbige dies bemerken wollten. Es hatte Mahner und Warner schon längst gegeben, die den Dreh erkannten. Dass nämlich mit zunehmendem Grad an Registrierung und Auswertung des Registrierten auch die Gängelei der Gläubigen durch die synthetischen Schlussfolgerungen der Rechenmaschinen zunahm. Jedem, der halbwegs klar bei Verstand war, leuchtete dies ein. Da aber die komplette Industrie und Wirtschaft der damaligen Zeit auf ein Produktdesign rund um den Zählismus, den Homo numerus baute und alles auf Lösungen für Probleme drängte, die es nicht wirklich, sondern nur als scheinbare, weil aus der Abstraktion der Zahlen abgeleitete, gab, konnte man zumindest unbewusst den Großteil der Menschen nach Belieben kneten. Jedoch heiligte hier der Zweck die Mittel, und die Katze biss sich in den Schwanz. Denn irgendwann implodierte das System, das viele mitmachten, von dem nur wenige profitierten, was sich selbst, weil es noch in Aktion war, aber nicht als gesteuerte Religion in klassischem Sinne verstehen ließ. Es fehlte an echten Kirchen. Oder waren die Jachten der superreichen Tech-Milliardäre etwa die Hausaltäre dieser Glaubensgemeinschaft? Eher nicht. Was da als privatisierter Glaube daherkam, musste als solcher verdeckt gehalten werden. Das Verrückte an der Sache war, dass sich alles auf das so genannte Individuum fokussierte: Mach‘ Dein Glück, Du entscheidest, kauf‘ dieses, schneid‘ Dir die Haare, geh‘ arbeiten und zahl‘ in die Kasse ein. Gönn‘ Dir was, lass‘ die Seele baumeln, mach‘ ’ne Kreuzfahrt. Und so weiter. Das Ich hatte Konjunktur, und weil das heute noch so ist, heute, zu einer Zeit, in der diese Religion echte Kirchen besaß und jedem Gläubigen ein Bekenntnis zur Aufnahme abtrotzte, wundert es nicht, dass Brand einer der ihren geworden war. [Fortsetzung folgt vielleicht]
Soundtrack: Alban Berg, Wozzeck, Berlin Classics, 0020682BC (1992)