In Toronto fliegt der Schnee heute seitwärts.* Das raue Gebäude in der Main Street wirkt nicht gerade einladend. Feuertreppen, eher schwarze, ehemals rote Ziegel und eine alte Holztür, deren Narben von einer Jahrzehnte währenden Agonie in einem Problemstadtteil erzählen. Auf einem kaum noch lesbaren Schild entziffert William Eggleston die Angabe «Deutsch-Japanische Gesellschaft Kanadas». Eine Lesung soll heute, im tiefen Winter stattfinden, danach das Treffen mit einem der Giganten der Geisteswissenschaft. Roland Barthes hat nach Jahrzehnten nicht zu deutenden Schweigens die Fortsetzung seiner Analyse der Fotografie veröffentlicht. Mit «La chambre chinoise. Notes sur ce que l’on appelle l’intelligence artificielle dans la production d’images» nimmt sich der 1915 in Cherbourg geborene Semiotiker der algorithmischen Bildproduktion an. «Es ist wesentlich schwerer, den ontologischen Status einer Fotografie zu bestimmen, als zu analysieren, was gerade in der Szene von neureichen, neoliberalen Schwachköpfen produziert wird.» Mit einer für Barthes untypischen Direktheit geht er die Dinge vor seiner Lesung bereits kantig an und stößt den 16 Zuhörenden zwar nicht direkt vor den Kopf, macht ihnen aber unmissverständlich klar, dass ihre Gegenwart mit jedem Tag eher einer planned obsolescence gleicht. Man spürt die Anspannung im Raum. Ein Hauch Publikumsbeschimpfung. Auf den smarten Deckchen, die jeden der antiquiert anmutenden Nierentischchen zieren, haben die News aufgehört zu flimmern, die Gastgeber üben sich in Contenance, sie wissen um den gewissen Grad Technophobie, die dem Meister zugeschrieben wird.
Im Raum sind alle schwarz wie auf einer Beerdigung gekleidet. Barthes sagt ein paar Tage später am Telefon, dass er am liebsten davon gelaufen wäre. Diese Retro-Burschen, die sich alles leisten könnten, von Midcentury-Mobiliar sprächen, während das früher einmal Fünfziger-Jahre-Stil, oder, in geschmackloser Radikalisierung, Gelsenkirchener Barock hieß. Überhaupt lässt der Franzose kein gutes Haar an der Gegenwart. Anstelle einer Lesung entfaltet er eine Suada. Der Schwanengesang hebt an mit einer Vernichtung: Franchise sei der Untergang der Zivilisationen, und vernichtend blickt er auf das Blinken der fehlgeleiteten Werbung auf der Tasse, die den Kopf im Stern von Starbucks einblendete, und überdies sei hier kein Kaffee im Gefäß, sondern nichts weniger, als Rentierpisse. Ein Raunen geht durch die Menge. Es ist alles in Eklatstimmung. Barthes versteht es wie immer brillant, Schwarz von Weiß zu trennen. Wer ihm zuhört, der versteht sich und die Gegenwart. Und letztlich sei das, was wir hier zu besprechen hätten, das Ergebnis von Code. Und zwar das Ergebnis einer durchrationalisierten Weise, zu schreiben, die am Ende Augenwischerei zur Folge hat. Es scheint so, als ob nun das Intro beendet werden würde. Mit einem Wisch seines linken Arms erscheint auf der Wand hinter ihm das Porträt von Luther Blissett. Wer kennt diesen weichkäseartigen Blick nicht. Ein weiterer Wisch zaubert denselben Porträtierten rechts daneben. Nun sehen wir ihn nicht in schwarzem Anzug vor diversen Pixelbildern wie in den frühen Collagen der späten 1990er Jahre. Wir sehen ihn zusammen mit Mona Lisa durch einen Park flanieren. Er fasst der Dame lustvoll unter den Arm und hilft ihr die Treppe, ganz Gentleman, hinauf, die beide zu einer Art Terrasse führt, von wo aus sie einen weiten Blick in den englischen Garten bei Windsor Castle genießen.
«Das, meine Damen und Herren», knarzt der Alte mit rachitischer Stimme, «ist der Abschaum der Gegenwart.» Und er erläutert, wie das Zeichenhafte in dieser Darstellungsweise noch stärker bastardisiert werde, als es in den Sandalenfilmen aus Hollywood passierte. «Wer Blissett und die Mona Lisa zum Leben zu erwecken versucht, gehört standrechtlich erschossen.» Eggleston nimmt die große Brille ab und schaut nur verwundert auf den Wissenschaftler. Seine Kamera, eine Rolleiflex, hat er derweil über die Schulter gehängt, und er fragt sich, ob das Fotografieren im Zeitalter künstlicher Dauerbildproduktion überhaupt noch Sinn macht. Und als sei es Gedankenübetragung, hebt Roland Barthes an zu einer Verteidigung analoger Bildproduktion. Es ist kaum zu bemerken, wie er in seinen Text hinüber geglitten ist. «Alle KI-generierten Bilder sind keine Bilder im herkömmlichen Sinne.» Dieser Satz steht im Raum und scheint den hier Versammelten wie ein weiterer Schlag in die Magengrube. Und schon teilt er weiter aus, dieser scharfsinnige Denker. Es gebe keinen Seinsstatus und keine Relationalität zwischen dem Dargestellten und der Darstellung. Es sei ein ums andere Mal nicht viel mehr, wenn man es denn in eine Metapher fassen möchte, als die erniedrigende Gleichgültigkeit der angewandten Mathematik und damit einer wenig schöpferischen Anwendung von Regeln, deren Ziel es sei, als Großzeichen für die Profitmaximierung zu stehen, die einzelne wenige Unternehmen aus dieser Gleichgültigkeit der Umwelt und der Lebenswelt gegenüber als einzig erstrebenswert deklarierten. Autsch, der saß.
In der kanadischen Nachbarschaft findet zur selben Zeit die ISEA statt. Hier wir dort geht es um Bilder in unserer Gesellschaft. Und wenn wir nach zwei Stunden Dauerboxtraining wieder auf die Straße treten, Eggleston darüber nachdenkt, wann er ins Labor geht, um die Negative zu entwickeln, schneit es wieder einmal in Schräglage. So in etwa ist es in Toronto, und auch die knarzende Tür wird weiter leiden, während Barthes gemächlich den Stift hebt und trotz seiner Heftigkeit gefeiert wird, seine Bücher signiert und den nächsten Flieger wieder nach Frankreich zu nehmen gedenkt. Die Gleichgültigkeit des Codes jedoch bleibt, trotz aller Intensität der Bildgegenstände. Dieses Reich der Zeichen ist so arm, wie der Blick in die schwarze Leere des Weltalls.
* Dieser Satz geht wahrscheinlich auf Kosten von John Irving. Quelle hier: «Bevor der Fahrstuhl im zehnten Stock ankommt und John Irving die Tür seines Apartments öffnet, ist noch genug Zeit, um schon einmal den Satz zu verraten, mit dem diese Zeitungsseite enden wird: ‹In Toronto fliegt der Schnee heute seitwärts.›» (https://www.zeit.de/2023/16/john-irving-schriftsteller-romane-usa; Paywall)