Bina denkt wieder weiter. Tagelang hat sie die Breeder adjustiert und Materie umgewandelt. Während die 耳の神様 in der Umlaufbahn kreist, Cat an irgendwelchen gebreedeten Maschinen bastelt und sie tut, was sie tun muss. Die Effekte der Zeitdilatation fordern ihren Tribut, die in nichts der Ungeduld entsprechen, die von ihr Besitz ergriffen hat. Bina zollt ihm, indem sie noch mehr arbeitet und zu vergessen versucht, was und wie die RDS war. Wo Büttner sich herumtreibt, ist schon kaum mehr in ihrem Horizont existent. Die Erde war ein Fetzen Flechte am Ast einer sterbenden Fichte in einem grenzenlosen Wald. Tiefe Trauer hat ihr Gemüt fest im Griff. Sie kann es sich nicht erklären. Und wenn es auch eine unendliche Odyssee zu sein scheint, in die sie ohne Verschulden hineingeschrieben worden ist, scheint sie, zumindest was das anlangt, völlig gleichgültig zu sein. Sie erinnert sich an den alten Maurizio, die Fahrten auf der MT-09 und die Begegnung mit Pirsig bei Volterra, die Flucht vor den Fascisti Rotolanti, längst erkaltete Liebe zu Margret und das Massaker der Hairy Armpits. Es lässt sie kalt. Wie nur lebt es sich, wenn man 5,10879 mal 1020 Kilometer von der Erde entfernt ist? Damals, vor dieser Tour, war es das Hüpfen durch die Zeit. Mit der räumlichen Dimension überstieg der Trip jedoch alles, was nun passiert, ihren Verstand. «Dodo Cat, Dodo Bina: Wir sind die Letzten unserer Art», denkt sie und bekommt Appetit.
«Was essen wir heute?», kräht Cat heiser von der kühlen Luft des Abends. «Ich habe uns eine Art Ratatouille aus den essbaren Pflanzen der Umgebung gekocht. Du weißt, der Wald, den ich entdeckt habe. Die KI hat ein Rezept daraus gebaut. Sie ist dabei, die komplette Fauna zu scannen und zu kategorisieren. Hier ist zum Glück alles überwiegend harmlos.» «Danke, großartig. Das meiste vom Teleskop ist nun in Sack und Tüten. Wir schicken morgen die Einzelteile hoch. Die Robotflotte ist programmiert und baut den Array. Weißt Du, was ich mich schon die ganze Zeit frage?» «Ne, keine Ahnung», antwortet Bina in Gedanken. Also nicht so richtig geantwortet. Daran vorbeigedacht und nur halb mitbekommen, was Cat gefragt hat. Das Rauschen in ihrem Schädel lässt nicht nach. Sie hat geforscht. Sie war unterwegs. Nun ist sie zurück am Landeplatz, aber ihre Erinnerungen galoppieren davon und halten sie gefangen. Sie sieht wieder die Pflanzen, die Chlorophyll besitzen. Der Erde ist das ziemlich ähnlich. Es ist deshalb auch grün, und die Bäume in dem Wald, den sie entdeckt hat, erinnern stark an das, was sie aus ihrer westfälischen Heimat kennt. Es hieß, dass vorzeiten die gesamte Region mit Wald bedeckt gewesen war. Das ist hier in manchen Teilen des Planeten anscheinend immer noch so. Sie ist betört von den Verwachsungen, Lichtungen, Tothölzern und Dichten in allen Vegetationsbereichen des Waldes. Der Blick auf den Boden, das leichte Heben und Senken in der Ferne. «Ich habe nichts von Deiner Arbeitsbeschreibung mitbekommen. Tut mir echt leid, aber was wäre, wenn wir hier bleiben? Hier ist es so, wie mir die Bücher meine Heimat ausgemalt haben, als die Menschen noch keine Maschinen hatten.» Unwirsch schüttelt sie sich. Ein Moskito, oder wie die Viecher hier heißen würden, hat sich ihren Kopf für einen hochfrequenten Orbit ausgesucht. Klatsch. «Ich muss gleich unbedingt in die Daten. Die Ähnlichkeit ist verblüffend», sinniert sie mit Blick auf Flügel, Form und Farbe des Flugtieres. Ist das gerade Sehnsucht, was sie verspürt?
Das Essen ist fertig. Sie hocken wieder am Lagerfeuer. Sie empfinden Befremden. Sie sitzen auf einem urtümlichen Planeten an einer stillen Stelle, an der es zwar Insekten gibt, sich aber sonst nicht viel sehen lässt. Sie hätten auch im Shuttle essen können. Dort wäre ein Tisch. Sie schauen auf den fremden Sternenhimmel, der klar ist und ihnen alles andere zeigt als die Milchstraße, so wie sie es von der Erde gewohnt sind. Das ist nicht die Erde. «Das kann nicht die Erde sein», Bina seufzt. Sie denkt sich, wie schön es doch wäre, in der Heimat zu sein, ohne dieses Beiwerk an Geschichte. Erd- wie Menschheitsgeschichte. «Hör auf zu spinnen.» Cat holt sie zurück auf den Boden. Morgen ist der Start des Arrays, dann wir gemessen, dann gibt es Informationen, dann wird gehandelt. So oder so. Es duftet, es mundet. Die einfachen Dinge des Lebens. Sie bringen Bina zurück in das Denken der RDS. Frieden im Weltall für alle. Denkt sie, «das ist es doch, was wir immer wollten». «Cat, haben wir vielleicht unseren Antrieb modifiziert? War das vielleicht ohne, dass wir es bemerkt haben? Ich habe Dir zwar die ganze Zeit nur halb zuhören können, aber parallel ging mir durch den Kopf, dass hier nichts mit rechten Dingen zugehen kann. Was wäre denn, wenn der ganze Planet, das alles hier, sich nur dem Stirling-Pratchett-Effekt verdankt?»
«Vielleicht hat das alles etwas mit unserer veralteten Vorstellung von der Ordnung der Dinge zu tun. Vielleicht liegt die Erklärung da, wo wir aufgehört haben, die scheinbar falschen Fragen zu stellen? Sicher funktioniert alles, aber warum wir hier sind, das wissen wir nicht, also kann Göttchen dabei eine Rolle gespielt haben oder Rumpelheinzchen. Vollkommen egal. Unser Wissen reicht wie immer nicht aus. Wir sind geneigt, den Berechnungen zu glauben. Wir glauben an die Ordnung der Elemente, haben Erklärungen für die Kräfte. Und das alles ist ja ganz wunderbar, weil wir experimentell bestätigen oder widerlegen können, was wir theoretisch aufgestellt haben, nachdem wir das, was ist, beobachtet haben. Wie aber wäre es, wenn das nur unserer eigenen Beschränktheit zu verdanken wäre? Wir bleiben ja stets in unserem Bezugssystem. Alles korrekt, denn weder esoterischer Quark noch religiöser Quatsch bringen uns weiter. Dennoch ist immer noch nicht geklärt, wie wir hergekommen sind. Oh shit! Ich gehe mal ins Shuttle und lese ein paar Zeilen aus ‹Logik der Forschung›. Karl Popper bringt einen wieder auf die Beine.» «Vielleicht hast Du recht. Lass uns anschauen, was bei der Himmelsbetrachtung herausspringt. Damit fängt schließlich immer alles an.» [Fortsetzung folgt vielleicht]
Soundtrack Prefab Sprout: Andromeda Heights, Kitchenware Records, KWCD 30, Columbia. 2017