Das war damals, als ich noch zur Schule ging. Meine Mutter schimpfte immer: «Geh‘ gefälligst weiter! Du hast bei denen nichts verloren.» Das rief sie mir hinterher, wenn ich den Weg in dieses kleine Haus fand. Das kam dauernd vor. Vater war damals im Krieg. «Im Krieg sein.» Das hieß so, und da ich zu diesem Zeitpunkt in die vierte Klasse der Volksschule ging, wusste ich nicht viel damit anzufangen, selbst wenn wir draußen sahen, was am Himmel vor sich ging. Rauchwölkchen in der Ferne. Leises Grummeln. Wir wohnten auf dem Kaff. Da interessierten sich die Bomberpiloten nicht für uns, weswegen auch die Naziluftwaffe sich nicht dafür interessierte, uns zur verteidigen, selbst wenn doch einmal ein paar von diesen riesigen Viermotorigen über uns hinwegzogen, und gelegentlich taumelten kleine schwarze Würste des Todes vom Himmel. Bei denen, die sie auf uns warfen, wollte ich sein. Mitfliegen. Wegfliegen. Fliegen eben.
Bei uns stand keine Flak. Es war Winter. Februar. Mittagszeit. Diese Luftkämpfe. Die Bomber. Das Siegen, das Verlieren: Das war alles woanders und hat uns Kinder auf dem Dorf nicht interessiert. Da war Schule oder nicht. In den Kellern waren die anderen, die näher an den Fabrikationsstätten lebten. Wir schauten, wenn wir frei hatten, höchstens in den Himmel und staunten über die Vorgänge, die wir nicht verstehen konnten. Und plapperten nach, was die Alten über die Übel des Krieges lamentierten, aber wir sahen nur Formen und Nichtfarben. Mutter schimpfte über den Wahnsinn. Sie tobte nicht, aber sie schimpfte, und sie wusste doch, dass sie den Mund zu halten hatte. Weil ja alle mit allen redeten. Eine feste Meinung war nicht gesund. Also sahen wir bei Gelegenheit alle paar Tage in den Himmel und sahen die Wölkchen, während Mutter über alles schimpfte und mich an die Kandare nahm, damit ich keinen Blödsinn machte. Und währenddessen kochte in mir eine Suppe auf, die mir mit Blick auf das kleine böse Haus in der Nachbarschaft die Röte in die Ohren und sonstwohin trieb.
Ich bin im Nachhinein glücklich darüber, dass ich so klein war. Das hätte ich alles sonst nicht ausgehalten. Ich bin wohl etwas zu weich veranlagt. Was mich interessierte: Lothars Schwester. Die hob eben den Rock, wenn man sie nett darum bat. Oder wenn man ihr Süßes gab. Davon hatte es nämlich nicht viel hier. Wenn es jenseits des Dorfes knallte, war es immer besonders aufregend, und Mutter war außer sich, wenn ich erst bei Rita im kleinen Häuschen war und gelogen hatte, dass die Balken sich bogen, denn ich dachte, dass es richtig gewesen war, zu sagen, ich wäre bei Lothar, dem mit dem Sprachfehler. Aber Lothar konnte natürlich nicht dichthalten, also gab’s Ärger. Ich wusste damals nicht, was das alles mit den Ereignissen rund ums Dorf, besser: fern des Dorfs zu tun gehabt haben sollte. Dennoch schien es einen Zusammenhang zwischen dem Lügen, dem Interesse an Rita und den Luftangriffen gegeben zu haben. Vielleicht war das die kindliche Vorahnung im Dämmerland des Werdens. Selbst heute, fernab von allem, kann ich mir die Zusammenhänge nur konstruieren. Wie so vieles, wenn nicht alles. Der Faden war schon längst vor meinem Erscheinen gerissen.
Mutter rief mich vergebens. Ich war gesteuert. Nur nicht von mir selbst. Und wenn es woanders knallte, der Himmel, wie wir es sahen, dunkel vor lauter Wölkchen wurde, wenn die einen am Tag, die anderen bei Nacht kamen, und wir trotz dörflicher Lage doch einmal in die Keller sollten, wie in diesem Februar 1945, war ich bei Rita und schaute ihr unter den Rock, gab ihr Süßes, dass Papa aus dem Krieg schickte, und wie konnte der denn, also der Krieg nämlich, dann Wahnsinn sein. Mutter verstand das wohl alles nicht so wie ich. Sie war halt Mutter, ich war irgendwie Kind, irgendwie aber auch nicht, weil Mutter ja immer sagte, dass ich nicht so kindisch sein sollte, dass alles ernst genug sei, so allein mit den Blagen, und dass ich schließlich mal Verantwortung übernehmen solle. Denn Papa war ja in Frankreich. Besatzer in Paris, und der gab natürlich keine ehrliche Antwort, wenn Mama ihn fragte, ob er schon mal hätte. Also mit einer anderen. Weil Paris und so. Ob das etwas anderes war? Papa jedenfalls hat nie etwas gesagt, als mein Sohn ihn Jahrzehnte später fragte, und da war Rita längst nicht mehr existent.
Rita war nicht die Mutter meines Sohnes. Der habe ich nur damals andächtig unter den Rock geschaut. Als also mein Sohn den Alten fragte, gab der keine Antwort. Er murmelte etwas in den Bart, den er nicht hatte. Nuckelte an seiner braunen Kronen-Export-Pulle und paffte Handelsgold oder Juno, denn die waren bekanntermaßen aus gutem Grund rund. Und er hatte auch nicht viel übrig – zu sagen, wenn der Enkel in einem männchenmäßigen Enkelkindwahn militaristisch wurde, was ich mit väterlichem Ärger begleitete und hoffte, es werde sich dann wohl legen. Tat es auch. Aber der Opa meines Sohnes machte dessen Flausen mit und besuchte Kriegsfilme. Die aber eher doch Antikriegsfilme waren, denn echte Verherrlichungen, wie es sich der Enkel, er gestand es mir dann später, gewünscht hätte, gab es in der Zeit nur in den Ausschnitten von Wochenschauen, wenn im Öffentlichrechtlichen eine Dokumentation durch die Kathodenstrahlröhren zu malerisch bewegten Hinterglasschwarzweißbildern auf die Mattscheibe geschossen wurde. Also war der Krieg für das Jüngelchen süß, und für seinen Vater, also für mich, da war er sogar gelegentlich sexy – nicht mehr zu der Zeit, als er selber Vater geworden war. Wie sich die Zeiten ändern, so ändern sich die Einstellungen.
Papa war weg, was den Vorteil hatte, dass Papa und Mama nicht stritten. Aber Mama eben mit mir streiten musste, da ich ja nicht bei Rita im Haus sein durfte, um der unter den Rock zu schauen, was Mama ja wusste, weil Lothar, der Volltrottel, der zum allem Übel auch noch stotterte, immer alles weitersagen musste. Das war ärgerlich, denn den Ärger hatte ich, war aber unverbesserlich, weil ich zwar aufs Süße, nicht aber auf den Blick unter Ritas Rock verzichten konnte. Es mag aus heutiger Sicht seltsam erscheinen, aber schuldig habe ich mich deswegen nicht gefühlt. Ich habe Rita niemals gezwungen. Die hätte mich auch fertiggemacht. Sie war ein, zwei Jahre älter als ich. Ich kann deswegen auch nicht angeben, warum sie das machte. Und als ich größer war, trennten sich die Wege schnell, weil wir umgezogen waren und ich auf eine andere Schulform ging. Der Klassiker. Manchmal kam mir das schon seltsam vor, dass es eben nicht den Eindruck erweckte, sie mache das wegen des Süßen. Aber bei allem Nachdenken darüber war eben doch Krieg, und wir mussten uns mit allem sehr bekümmern. Sonst kam kein Essen auf den Tisch, sonst konnte die Miete nicht bezahlt werden, sonst konnte auch kein Schulgeld aufgebracht werden. Dass ich dann später für das Gymnasium geeignet war und es durchziehen konnte, war ja keineswegs selbstverständlich für Leutchen aus unserer Ecke, oder man kann es ja auch Klasse sagen. Mein Vater war ja Arbeiter. Und was war dann bitte meine Mutter anderes? Aber für ihre Kinder war eben immer Geld da. Meine Geschwister wollten das nicht haben. Für sie war es wichtiger, schnell Geld zu verdienen.
Meine Brüder sind tot. Mein Sohn, meine Töchter, sie alle sind verschollen. Ich bin hier, höre, wie meine Frau sich unten plagt – wir werden alt –, und ich denke über den Zauber des Lebens und des Sterbens in einer sich zusehends von mir entfremdenden Umwelt nach. Oder bin ich es, der sich entfremdet? Wir leben in einer Art Mausoleum von Geistern, und ich lasse meinen Blick durch das Büro schweifen. Es hat sich alles irgendwie ergeben. Dass wir wieder hier sind, nach dieser Odyssee. Jahrzehnte waren wir fort. Ewig kam mir die Trennung von Margaret vor. Jedoch, wir leben, haben gearbeitet, geforscht, Welten entdeckt, die niemand zuvor gesehen hat. Wir haben uns für all’ unsere Zeit in den Dienst der RDS gestellt. Ich habe Margaret begleitet, Margaret hat mich begleitet. Die Zeitläufte haben uns getrennt und nach Äonen wieder zusammengeführt. Wir sind beide getrieben von der Notwendigkeit, friedfertig zu leben und politische Prinzipien zur Herstellung des Friedens zu vermitteln und diesen Frieden natürlich auch zu verteidigen. Ich wurde genauso wie sie als Idee von etwas Größerem geboren, von dem man annehmen kann, dass es im Beieinander der Kräfte nur die eine Seite gibt. Geben kann. Aber die Tücke steckt in der Physik selbst. Mit jeder Erkenntnis trumpft ein frischer Gedanke auf, der von den Menschen längst gedacht war. Wir sollten nicht so tun, als seien beispielsweise die Wechselwirkung oder die Quantenverschränkung nur etwas für die rechnenden Wesen unter uns. Hat sich schon jemand von den Damen und Herren der physikalischen Zunft Gedanken darüber gemacht, wie man die Vorstellung von der Semantik und Funktionalität von Metaphern in der sogenannten Natur findet? Und wenn ich nur die Manifestation einer Idee sein sollte, dann war es richtig so. Die ganze Zeit waren Margaret und ich dann Annahmen einer Wirklichkeit, die sich bewähren durfte. Eine nicht unerhebliche Chance inmitten des Tosens der Elemente.
Wenn ich dann doch wieder an den Krieg denken muss und mir überlege, dass wir auch unsere Kinder in die Sache hineingezogen haben, wird mir speiübel. Theoretisch ist alles ganz klar, und dass wir hier sind, hat auch damit zu tun, dass wir die Verletzungen und die Schmerzen verwunden haben. Was aber ist mit unseren Kindern da draußen? Wann werden wir wieder etwas von ihnen hören? Wann werden wir sie sehen? Mein Gerede ist nicht mehr als blödes Gestammel. Ich sollte nicht so tun, als hätte ich die Weisheit mit Löffeln gefressen, aber die Kinder, die bleiben. Und meine Sehnsucht, die ich mit Margaret teile, richtet sich einzig auf sie.
Wie liest sich das hier eigentlich? Ich habe damit angefangen, Erinnerungen in Form eines Tagebuchs aufzuzeichnen. Das erste, woran ich denken musste, war meine Kindheit und diese körperlichen Effekte. Dann habe ich mit den Gedanken an die Familie eine Lage beschrieben und landete in der Gegenwart als Wartender. Was das alles mit dieser Rita aus der damaligen Nachbarschaft zu tun haben soll, weiß ich nicht, daher geißele ich mich jetzt und stelle infrage, ob die Organisation der hier vorliegenden Gedächtnisinhalte nicht vollkommen falsch verstanden werden könnte. So in der Art etwa: «Schon früh wurde in ihm angelegt, dass er ein triebgesteuerter Schwachkopf war, der nur von hier bis zu seiner Gürtelschnalle denken konnte.» Könnte man meinen. Aber die Lesenden verzeihen. Ich weiß das, denn ich bin selbst Leser. Und über die Jahrhunderte hinweg habe ich gelernt, den Schreibenden zu verzeihen. Nun denn. Ich werde mich nun mit anderen Dingen beschäftigen und darauf warten, dass meine geliebten Wanderer in Zeit und Raum Bröno zur Strecke bringen. Das wäre ein Meilenstein auf dem Weg hin zu einer vielleicht besseren Welt. Wer weiß das schon. Das Universum ist selbst für uns Zeitreisende viel zu groß. Und ganz nebenbei: Wir müssen Dressler finden. Dringend. [Fortsetzung folgt vielleicht]
Soundtrack: Gustav Mahler, Symphonie Nr. 8 in e-Moll, «Symphonie der Tausend», London Philharmonic Choir, Tiffin School Boys‘ Choir, London Philharmonic Orchestra, Klaus Tennstedt, Richard Versalle (Tenor), Richard Cooke (Chorleiter), Neville Creed (Chorleiter), Nadine Denize (Mezzosopran), Dame Felicity Lott (Sopran), Jorma Hynninen (Bariton), Hans Sotin (Bass), Elizabeth Connell (Sopran), Edith Wiens (Sopran), David Hill (Orgel), Trudeliese Schmidt (Mezzosopran), aufgenommen am 20. bis 24. April (Walthamstow Town Hall) und 8. bis 10. Oktober 1986 (Westminster Cathedral, London), Warner Classics, Gustav Mahler, Sämtliche Werke, 50999 6 08985 2 4; CD 11/12 (von 16)