Kaltes Tropfen

Da stand Kampmann nun in der Kälte und hörte sich an, was die Englisch parlierende junge Dame namens Cima vor seiner Nase ihm und seinen sieben Höhlenforschern zum Besten gab. Sie erzählte etwas über das Alter, die geologische Besonderheit, irgendwelche Tierarten, und er fragte sich, was er hier eigentlich solle. Denn das ging hier schon eine Viertelstunde so, und es gab keine Anzeichen für ein Weiterkommen in seiner Geschichte. Er war natürlich nur bedingt passend gekleidet. Da half auch die Jacke nicht weiter, die ihm Cima gegeben hatte. Nach der überwältigenden Helligkeit des Tages und den Anstrengungen auf dem langen Weg bis hierher genoss er jedoch diesen halbdämmerigen Zustand, der ihn an einen sehr angenehm träumerischen und von sanften Düften umflorten Halbschlaf erinnerte. Alles sehr merkwürdig. Dann schaute er ein wenig genauer auf Cima. Sie war eine attraktive1, schlanke Frau mit schwarzen, langen Haaren und tiefen, schwarzen Augen. Aber etwas war auffällig anders an ihr. Er brauchte eine ganze Weile, bis es ihm ins Auge stach. Was hatte seine Führerin doch für seltsame Zähne? Warum konnte er sich nicht des Eindrucks erwehren, dass eine gewisse Gefahr von ihr ausgehe? Seine Instinkte waren mit einem Mal vollauf eingestellt auf seinen sensorisch-sensiblen Wachsamkeitsmodus. Er bewegte sich unauffällig einen Schritt zurück ins abseitige Dunkel hinter die Kleingruppe, griff an seinen Gürtel, nestelte an dem Futteral und schaltete den Quattrocorder ein. Dann drückte er wie im Schlaf die Analysetastenkombination zum Aufspüren paranormaler Phänomene. Das war zwar immer noch einer der Experimentalmodi, der dazu führen konnte, dass man das komplette Gerät resetten musste, aber er versuchte trotzdem sein Glück. Lange dauerte es nicht, und das Gerät spuckte in Anbetracht seines Vorurteils ein unerwartetes Ergebnis aus. «Man muss ja nicht immer gleich misstrauisch werden, und nicht jede schwarzhaarige Schönheit aus Südosteuropa ist Vampirellas Schwester», dachte er bei sich und schämte sich insgeheim für diesen albernen Verdacht. Andererseits: Vorsicht ist nicht nur im matriarchalen Geschäft um Kaolinprodukte nützlich. Gerade hinsichtlich der Tätigkeiten der RDS ist es vonnöten, dass man offen für alles ist. Denn erst dann erlernt man, ob Vampire wirklich sind, oder ob es nur den Anschein hat, als gäbe es sie. Schein und Realität sind ureigenes Terrain der RDS. Dauernd haben unsere Helden mit den Verwechslungen von Licht und Schatten oder der Umkehrung von Perspektiven zu tun. Und besonders wichtig sind die neuen Erkenntnisse aus den Naturwissenschaften. Hier sollte insbesondere auf die nun überhaupt nicht intuitiven Erkenntnisse der Physik verwiesen werden. Wir lassen uns natürlich dauernd von unserer Intuition leiten, und gerade die am wenigsten rationalen Menschen pochen auf so etwas wie einen gesunden Menschenverstand, mit dem sie einerseits alles, was jenseits des Tellers dieser Leute liegt pathologisieren, andererseits behaupten, es gäbe so etwas wie eine Spiegelung der Naturgesetze prä-Newtonscher Prägung, die sich in den Menschen manifestiere, und es sei eben gerade so, dass gerade die Gegner dieser Leute, weil sie ja krank sind, dies nicht hätten. Dabei ist alles, was in der Quantenmechanik passiert, mit so etwas Einfältigem wie dem scheinbar gesunden Menschenverstand nicht mehr zu erklären. Man muss einfach gnädig mit vielem sein, was einem begegnet. Und sollte diesen falschen Verstand, der keiner ist, auch bloß nicht mit einem Kontrapart der Intuition verwechseln. Vielen fällt es nicht auf, dass es das manifestierte Ressentiment ist, was sich da zum Ausdruck bringt. Prüfung von Fakten und die Erkenntnis, dass nicht alles so ist, wie es scheint, ist eines, zuzulassen, dass es etwas Unerwartetes auch nach der Prüfung gibt, ist ein Charakteristikum der Leute vom RDS. Aber genug davon. Kampmann schaute währenddessen fortwährend auf Cima. Er betrachtete sie gern und mochte es, wie sie diese Details der Höhle, hinter denen Jahrzehnte an Forschung steckten, motorisch herunterratterte, als wären die Syntax und Aussprache eine gut geschmierte Lore auf Schienen einer zwangsläufigen Linearität eines Textes, der unvermeidlich vom Leben geschrieben worden war, so wie wir Menschen es gern hätten. Eins folgte aufs Andere, wie in der Zeit, hätte man meinen können, aber Kampmann wusste es natürlich besser, und er dachte wieder einmal an Büttner, die gemeinsamen Zeitreisen und den Job den er zu erledigen hatte. Und schon landeten sie an einer Absperrung kurz vor einer Weggabelung. «Hier muss unsere Führung nun vorzeitig enden. Leider sind die Forscher nicht im Dienst, sondern bei der 47. Transnationalen Jahrestagung Urbaner Troglodyten (TJUT) in Buenos Aires. Daher kommen wir heute hier nicht weiter. Sie sind eingeladen, uns in der kommenden Woche wieder zu besuchen. Da sind die Kollegen zurück, und Sie können eine umfassende Führung genießen. Dann werden Sie die leuchtenden Moose und farblosen Amphibien kennenlernen. Vielen Dank», sprach’s, bedankte sich nochmals nach dem Applaus und der Trinkgeldübergabe und gab den Anwesenden die Gelegenheit, sich innerhalb der Absperrungen umzuschauen. Mit einem Zwinkern, das Kampmann galt und nur er zu sehen bekam.

«Ok, sie ist eine von uns.» Dachte er und wartete, bis der letzte Teilnehmer dieser tourismierten Expedition seinen Rückweg über die schlängeligen Wege durchs dramatisch mittels gelblich bis violett und weich gen Decke leuchtenden Spots inszenierte Dämmerlicht angetreten war. «Also ran an die Buletten.» Kampmann legte vorsichtig den Rückwärtsgang ein. Er hoffte, dass niemand ihn vermisste und Cima Bescheid gab, aber wenn sie wirklich vom RDS war, würde sie improvisieren können, selbst wenn sie den Zweck seines Besuchs nicht kannte. Mittlerweile hatte er sich an die Kühlschrankatmosphäre gewöhnt, und er fühlte sich mehr als erfrischt, als er mit gebeugtem Rücken hinter die Absperrung kroch. Da standen Steine wie Stühle und Tisch grob behauen, als hätten bösartige Räuber ihre Wohnstatt hier in dieser jahrtausendealten Wundergrotte eingerichtet, aber sie waren so natürlich gewachsen wie alles auf unserem wunderschönen blauen Planeten. Jetzt musste sich Kampmann bücken, um noch tiefer in die Kaverne einzudringen. Dann fiel ihm mit einem Mal der Helm vom Kopf. Es ging leicht abwärts. Der Kopfschutz taumelte, trudelte und eierte dann mit großem Trara den immer mehr verschwindenden Weg hinab. «Bravo, Kampmann, das hast du wieder spitzenmäßig hinbekommen…» [Fortsetzung folgt vielleicht]

Soundtrack: Controlled Bleeding, Songs from the Ashes, C’est La Mort, CLM-CD 022, 1989


1 Eigentlich sind derartige Klischees unverantwortlich, aber dieses hier muss sein. Denn es ist genau, also wortwörtlich das, was Kampmann durch den Kopf ging, als er Cima betrachtete. Ich bin ein nicht ganz auktorialer Erzähler. Natürlich kenne ich Kampmann. Ich kenne ihn zu gut, und ich bemühe mich ständig, seinem Blick zu folgen. Da ich Ihnen so viel von ihm und seinen Abenteuern erzähle, muss ich mich in Teilen mit ihm identifizieren. Ob ich will oder nicht. Daher wird es gelegentlich personal. Ich nähere mich einer gewissen Identität mit dem Erzählten. Was nähert sich da an? Das frage ich mich bisweilen, wenn ich auf dem Sofa sitze. Es ist meistens morgens, früh morgens. Selten unter der Woche. Meistens schreiben wir einen Samstag, an dem ich die Zeit aufbringen kann, um das mit Kampmann Erlebte in diesen Strom von Wörtern zu übertragen. Der Kaffee steht vor mir. Ich sitze inmitten von Regalen und stöbere gelegentlich, um mir Anregungen zu holen. Ich gebe zu, dass ich schnell von den Inspirationsquellen absehe, da ich – einmal begonnen – schnell, genauso wie jetzt auch – in einen Rausch der Buchstaben, Silben, Wörter, Sätze, Absätze falle und es mir dabei sehr, sehr gut geht. Aber was schreibe ich? Meine Tätigkeit, meine Gefühle stehen hier nicht zur Debatte. Dennoch bin ich Rechenschaft für jedes noch so kleine Wörtchen schuldig. Mir selbst und Ihnen. Unsere Gesellschaften sind dunkel, und die globale Situation ist in keiner Weise dazu angetan, noch weiter an den Lügen von einigen öffentlich sichtbaren Playern mitzustricken. Man sollte eben nur in der Literatur lügen. Oder im Film. Morgen ist wieder ein Samstag. Es steht zu erwarten, dass ich zu einem frühen Zeitpunkt aufstehen werde. Noch kann ich nicht sagen, ob mich das Schreiben wieder ereilt. Ich muss dazu Kampmann befragen. Gerade hat er mir befohlen, diesen Abstecher in den Krater namens Nabel zu unternehmen. Morgen kann es schon wieder ganz anders aussehen. Wenn ich also Kampmann Klischees dreschen lasse, so danken Sie es ihm bitte. Ich nehme die Verantwortung von mir. Er steht hier schließlich in einer Situation, die durchaus wenig dazu angetan ist, in höchster poetischer Sprache zu denken. Er ist eigentlich fix und fertig nach dem langen Lauf durchs kroatische und bosnische Hinterland. Keiner braucht Mitleid mit ihm zu haben. Er hat sich das alles selbst angetan. Wäre er mit dem Taxi gefahren, hätte sein Sprachzentrum sicher noch die eine oder andere vor allem sinnvollere Ausdrucksweise vorhalten können. So aber? Nun gut, lesen Sie selbst, wie es weiter geht. Ich kann Ihnen nur raten, hier nicht aufzugeben. Denn so langsam wird es wirklich spannend.