Who’s afraid of…

«Sag‘ Du‘s mir. Woher kommen diese Träume», fragte Bina leise, drückte Cat fester an sich und schaute in die Ferne. «Wenn ich das wüsste, stünden wir nicht hier», vermutete die Antriebsmechanikerin und lächelte resigniert. «Mir reicht es so langsam. Erst katapultiert uns der Antrieb in diese unendliche Ferne, und nun müssen wir noch in das Gehirn eines Psychos schauen. Und das dann zudem parallel: wir beide, zu selben Zeit! Bitte, ich schaffe es bald nicht mehr. Wir müssen hier herauskommen.» Ja, das mussten sie. Aber Cat hatte gut reden. Die Lage war so klar wie deprimierend. Mit herkömmlichen Mitteln, selbst mit ihrem doch so speziellen Antrieb würden sie es niemals schaffen, die Erde zu erreichen. Mit einer signifikanten Abstandsverringerung ihrem Heimatplaneten näher zu kommen, war der Wunsch, der Wille, aber sich etwas zu wünschen, das reichte eben nicht. Immerhin litten sie keine Not, jedenfalls nicht unmittelbar. Der Planet war eine wohlige Heimstatt ohne Gefahr für ihrer beider Leib und Leben. Die Schwerkraft war erdähnlich, die Zusammensetzung der Atmosphäre war erdähnlich, die Rotation war erdähnlich, alles war so eingerichtet, dass sie mit diesem Himmelskörper die perfekte Welt Goldilocks entdeckt hatten. Nicht einmal eine feindliche Fauna oder Flora schien sie zu bedrohen. Morgens wachten sie in ihrer provisorischen Bleibe im Shuttle auf und konnten sich dennoch nicht mehr an den Gesängen der Himmelshyänen erfreuen. So hatten sie diese merkwürdigen kleinen Vögel, ja Vögel[1], genannt, deren getüpfelt-zerrupftes Äußeres sie an eine Mischung aus Stadtsperling und Bahnhofstaube erinnerte. In der Größe zwischen den irdischen Vögeln angesiedelt, hatten sie einen violetten Schnabel, und sie sangen wie die Callas lang ausschweifende, romantische Melodien, in denen sich kein einziger Ton zu wiederholen schien. Es waren niemals viele, aber die Vielstimmigkeit zerriss einem das Herz. Sie hüpften über den lehmigen Boden, saßen in den Bäumen oder kamen ganz ungeniert auf Bina und Cat zu, um sich von den beiden Erdlingen streicheln zu lassen. Diese wiederum beschimpften sich bei guter Laune, die allerdings immer seltener wurde, gegenseitig als Franziskus und Grzimek. Und sie hofften, dass niemals andere ihrer Art dieses doch eigentlich herrliche Eiland in den tiefen der Raumzeit je fänden.

Außerdem funktionierte ihre Technik. Die Energieproduktion stellte sie vor keine erwähnenswerten Herausforderungen. Dennoch lastete der Druck auf den beiden Erdlingen schwer. «Ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalte», seufzte Bina. Jeden Morgen wachte sie mit dem Gefühl auf, in einer eisernen Lunge zerquetscht zu werden. «Stell‘ dir vor, du bist im Paradies», hatte Cat einmal gesagt. Worauf Bina nur dachte, dass nicht nur ein jeder Engel schrecklich sei, sondern auch die unbeseelte Schönheit ihres gegenwärtigen Aufenthaltsorts: in Erinnerung an eine Dichtung aus der so unendlich fern erscheinenden alten Zeit in ihrer früheren Geschichte. Jetzt lässt sich nichts mehr zurückdrehen. «So kommen wir nicht weiter», entfuhr es Bina mit beinahe aggressivem Tonfall. «Wir haben den Stein mit den Zeichen. Wir haben den Ort, wo wir sind. Wir haben unsere 耳の神様. Wir träumen gemeinsam die Träume eines Psychopathen, der Landwirte zur Strecke bringt, in einer Gesellschaft, in der Landwirte Hunde überfahren. Dann sollten wir endlich damit anfangen, eins und eins zusammen zu ziehen.»

«Wow, du Scherzkeks, ja, ich bin mehr als einverstanden, aber wie gehen wir‘s an?», fragte Cat einigermaßen ratlos. «Wir sollten uns sofort wieder zu dem Stein begeben und ihn uns noch einmal ganz genau an anschauen. Dann transmittieren wir erneut alle Symbole in die Rechenanlage der 耳の神様. Wir werden ein wenig an den Parametern schrauben und einen Code daraus basteln müssen, den wir in eine der uns bekannten Sprachen übersetzen. Vielleicht handelt es sich gerade nicht um eine Botschaft, sondern um die Abbildung eines Prozesses. Wir werden es zunächst aus zwei Blickwinkeln berechnen lassen. Die entscheidende Frage lautet meiner Auffassung nach wie folgt: Sind die Zeichen zueinander in einem linearen Paradigma miteinander verwoben oder nicht? Das muss der erste Schritt sein, und Gnade uns Gott, dass es nicht linear ist, denn dann bekommen wir einen Ausweg aus der Zeitlosigkeit in der wir uns jetzt befinden.» «Wie? Hast Du einen Ansatzpunkt?» «Und was für einen! Mir ist das gerade aufgegangen. Wir können nur über eine Technologie hierher gelangt sein, die gemäß nonlinearen Gesetzmäßigkeiten funktioniert. Wie konnte ich die ganze Zeit nur so blöde und blind sein! Also stell’ Dir Folgendes vor: Wir dümpeln stets in einer Umgebung herum, in der alles den Gesetzen der Linearität folgt. Wir können uns weder Gleichzeitigkeit noch Zeitgleichheit vorstellen. Falsch, vorstellen schon, aber nicht in ihr leben. Meinen wir zumindest, denn dass wir’s können, bewiese dann unsere Anwesenheit auf diesem Planeten. Dieser gesamte Mist der Sukzession von Geburt, Leben und Tod determiniert uns und steckt uns in einen scheinbar nicht zu öffnenden Käfig. Daher suchen wir immer nach dem Anfang des Universums und gehen ins Kino und danach heim, wenn die Geschichte zuende ist – meinen wir zumindest. Oder wir suchen nach einem Gott. Oder nach Unendlichkeit, die es nicht gibt. Wir haben uns Krücken angelegt, die jene verfluchten Zeitläufte zumindest für die Dauer eines Windhauchs unterbrechen, sei es Karneval, Drogenkonsum oder überhaupt das Konzept der Pause, wenn man auf die Geschichte der Arbeit oder auf ein Notenblatt schaut. Außerdem haben wir diese Verzweiflung ob der Linearität kulturalisiert und bis in unsere Haarspitzen kultiviert – zumindest die eurozentrisch geprägten Kulturen. Mir geht beispielsweise Morton Feldmans ‹Streichquartett Nr. 2› von 1983 durch den Kopf. Das Stück Minimal Music nobilitiert eine Vorstellung des Aufgehobenseins von Zeit in Form der dauernden Repetition gleicher und ähnlicher Elemente und macht dies nachgerade physisch erfahrbar. Aber auch das bleibt in der Abfolge der Zeit und nicht in der Raumzeit. Das bekommen wir Menschen mit diesem wunderbaren Mittel nicht hin. Musik, wie wir sie verstehen, ist immer nur Ausdruck der menschlichen Linearität. Die einzige wirkliche Form menschlichen Ausdrucks einer Aufhebung von Linearität ist Malerei oder generell ein Bildschaffen in zwei oder mehr Dimensionen, ganz gleich, ob du zeichnest oder fotografierst. Überlege mal: Du hast eine Fläche und auf dieser Fläche sind Sinnesdaten gespeichert, die verschiedenen Sensoren adressieren.» Bina war in ihrem Element.

«Im ersten und in großen Teilen des zweiten Jahrtausends kamen die Leute nicht über die Abbildung von Linearität hinaus, selbst wenn sie spätestens mit der Renaissance versteckt wurde. Sie mussten erzählen! Verstehst Du, Cat: erzählen: ‹Es war einmal…› und so weiter. In Europa immer hübsch von links nach rechts. Anderswo von rechts nach links oder oben nach unten. Aber dann kam irgendwann der Bruch. Alle ‹Seerosen› sind zur selben Zeit auf einem Teich, der kein unten oder oben kennt. Und wer liest ‹Who‘s afraid of red yellow and blue› wirklich eindeutig von links nach rechts? Hier ist des Pudels Kern; das ist zwar noch nicht die Lösung unseres Problems. Aber das muss der Zugriff darauf sein. Wenn wir hier ansetzen und unseren Antrieb entsprechend modifizieren, könnte uns der entscheidende Fortschritt gelingen. Denn damit purzeln die physikalischen Paradigmen. Bye Newton: Sag’ Hallo zur Simultaneität des Sukzessiven!» Bina ereiferte sich. Das hatte sie lange nicht mehr erlebt: Heureka! Es schien, als kündige sich ein echter Durchbruch an. Wie konnte nur so etwas Marginales, scheinbar niemals hier Weiterhelfendes wie die Malerei, die doch keineswegs echten Kriterien von Wissenschaftlichkeit Stand halten sollte, dafür herhalten, dass plötzlich eine wildfremde Zeichensprache auf einem absurd weit entfernten Planeten entzifferbar werden würde? Der Luxus bildender Kunst aus längst vergangenen Zeiten. Cat nahm Bina noch fester in ihre Arme. «Ich verdanke es Dir», flüsterte sie. «Nur Dir.»

Das alles klingt schön. Aber Bilder sind statisch, starr, und nur in der visuellen Wahrnehmung Motor für Vorstellungen in Bewegung, die wieder der linearen Welt zugehörig sind. Dann könnte man ja auch Sternkarten nehmen und … «Bina, Bina, jetzt wird es rund! Wir scannen das Bild auf dem Plateau. Aber avanti galoppi, meine Liebe. Lange genug haben wir hier gebrütet. Ich baue uns eine Engine, die uns weit fort von hier bringt. Lass’ uns rechnen lassen, lassen ad inf.» [Fortsetzung folgt vielleicht]

Soundtrack: Morton Feldman, Streichquartett Nr. 2, Ives Ensemble, hat[now]ART 4-144, 2003


[1] Wenn kein Fachvertreter schimpft, würde man Vögel als Wirbeltiere bezeichnen können, die sich durch Flügel und Schnäbel auszeichnen und deren Korpus mit Federn bedeckt ist.