Der Duft der Jacke

Als er erwachte, hielt das Taxi gerade im Hafen, und Kenje nötigte ihm ein paar Euro ab. Mittlerweile gab es in Kroatien die Europawährung. Es war ein Segen für ihn, dass er nicht herumzurechnen brauchte. Kampmann war immer noch konfus. Die Hitze, das Laufen, die Höhle. Seinen Auftrag hatte er gerade vollständig vergessen. Er dachte an die Unterwelt, prokrastinierte sich mit einem gewissen Kratzen in der Leistengegend in die Rolle eines Sommerurlaubers zurück und vergegenwärtigte sich die Lage, als er Cima auf den «Leim» gegangen war. Es war immer das Gleiche. Er neigte dazu, Frauen zu bewundern. Und dann überkam ihn eine Sehnsucht nach Befreiung von diesen Sympathien, die ihn stets melancholisch, wenn nicht gar traurig stimmten, also wollte er eigentlich nur nicht immer dieses Sehnen empfinden. Denn das war ein süßer Stich in die Seele, mitten hinein in sein unsouveränes Kleinbürgeregoherzchen. Und das bei Sonnenuntergang. Ein Witz in der Dramaturgie der Wirklichkeit, wie der auktoriale Erzähler hier anmerken möchte. Also stand er mit kaum vorhandenem Gepäck am Kai und schaute sich um, ohne mehr zu sehen, als Cimas Blick und die raue Stimme. Wobei er natürlich auch den hellen Stein unter seinen Füßen, das Glitzern der Wasseroberfläche, die Mole, das Dorf und noch mehrere andere Details sehen konnte. Er roch, hörte, war aber nicht sonderlich aufmerksam und folgte lediglich den Spuren seiner unstillbaren Sehnsucht. Er würde niemals abends an ihrem Küchentisch sitzen, Wein trinken und mit ihr über einen erfüllten Tag sprechen. Das war gewiss. Jetzt erinnerte er sich, dass er nicht einmal mehr den Geruch wahrnahm, der in ihrer Jacke gespeichert war. Die hatte er unten bei Phmakt gelassen. Das war auch so eine Sache, die ihm half, die Welt anders zu sehen, wobei das «Sehen» nur die metaphorische Bezeichnung für etwas war, das sich einen Schritt weiter als wahrnehmen auf dem Weg zum Denken befand. Schwer auszudrücken, das Ganze, wenn man kein Bewusstseinsphilosoph oder Neurophysiologe ist. Duft ist Materie. Materie ist ein Vielfaches von etwas. Das also viele Etwasse, und die nennen sich bekanntermaßen Partikel. Die wiederum bilden auch nichts anderes als Formationen. Und schon fragte sich Kampmann, wie man sich das anhört. Wenn auf der X-Y-Z-Achse eine Profil entsteht, das einen Anfang und ein Ende hat, und wenn man beispielsweise die Anzahl von bestimmten Partikeln auf einem Punkt in dem Koordinatensystem als Schwingungshöhe in Hertz festsetzt, und wenn man weiter dann die Z-Achse als Schicht in der Instrumentierung denkt, sprich eben nicht nur singuläre, virtuelle Instrumente, sondern Farben zulässt, sollte man aus einem Duftfeld, das sich aus der Verteilung von Partikeln, nennen wir sie Aerosole, ergibt, ein Stück erhöhren können. Also wie hört sich der Duft von Cimas Jacke an?

Der Himmel rötete sich ein. Kampmann fand sich wieder. «Man müsste dafür einen übersetzenden Sinn haben. Dass man nicht mehr riecht, was duftet, sondern dass man es hört.» Diese Musik schmeckte nun wirklich nach Urlaub. Da hatte er sich. Verloren. Die Zeit ist verloren. Wir sind Verlorene in der Zeit. Bei allem, was war, drehte sich der Planet, und seiner Atmosphäre gemäß färbte sich der Himmel, um auf der Frequenz menschlicher Sensorik als das zu erscheinen, was in jedem zweitklassigen Kitschfilm als romantisch in die Annalen kultureller Belanglosigkeit eingegangen war und nicht nur am Mittelmeerufer doch wiederum die wahrnehmbare Wahrheit ist, war, sein und gewesen sein würde. Ein Hund sähe das sicher anders. Aber die haben in diesem Teil der Schrift noch nicht das Sprechen erlernt. Können wir sie also nicht nach ihrer Sicht auf den Sonnenuntergang befragen. Was allerdings für den weiteren Fortgang genauso unwichtig wie die Klangphantasien von Kampmann ist.

In seiner Gedankenlosigkeit hatte es Kampmann auf die halbe Anhöhe hinter das Dorf getragen. Zwei Katzen lagen auf dem Asphalt, den noch ein Hauch der Strahlen, ausgesendet von der untergehenden Sonne, bestrich. Die schildpattfarbene kleinere der beiden sah nicht einmal auf, als er sich mit einem deutlich hörbaren Seufzer auf seinen Allerwertesten auf der Bordsteinkante niederließ und mit einem Kopfschütteln das Gespinst aus seltsamen Vorstellungen über sein Jetzt vertrieb. Die Mülltonnen neben ihm quollen über vor Unrat. Ein schäbiger Renault parkte neben einem schäbigen Fiat neben einem schäbigen alten Golf, und so ging es weiter die Straße ab- und aufwärts. BMW- und Hyundai-Interemezzi inbegriffen. Durchschnittlicher Wohlstand, erträglich, aber erkämpft und von den Touristen abgetrotzt. Er musste nicht ohne Grund wieder hierher gekommen sein, denn er sah ein Schild, das auf den Ort hinwies, wo die Eingänge zu den Höhlen in Bosnien lagen. Jetzt war er also wieder da und registrierte, dass dieser ländliche Mittelstandsreichtum ihn sehr stark an die eigene Herkunft erinnerte. Die andere Katze streckte sich in unglaubliche Längen, nachdem sie erwachend auf die Beine gekommen war. #caturday, dachte Kampmann. Wir sind am Mittelmeer. Hunde, Katzen genossen ihre Freiheiten, und die gelegentlich melodierenden Vögel in ihren Käfigen konnten das nicht. Hibiskus, Oleander und diverse andere Buschpflanzen säumten die umzäunten oder ummauerten Häuser und ließen auf oasengleiche Gärten, unsichtbar für die Augen des Flaneurs, schließen. Feigen. Nachdem die wesentlich größere der beiden Katzen sich gestreckt, gedehnt und gebuckelt hatte, schlenderte sie auf die Tür eines der Häuser zu, vor der eine hälftig gefaltete Zeitungsseite lag. In öligem Fleck soeben noch sichtbar: Bröno Selfmachtger-Spretz nicht in Uniform, sondern in cremeweißem Tuxedo. Jetzt aber durchscheinend gerändert und getränkt. Was darauf hindeutete, dass da Sardinen oder irgendwelche anderen kleineren Fische gelegen hatten. Das Pelztier schnupperte und machte sich in Ermangelung weiteren Schmauses schnurstracks von dannen, sprang aus dem Stand zweieinhalb, drei Meter hoch auf eine der Mauern und verschwand dahinter; und ließ somit eine der Wände, die rund 20 Meter straßabwärts lag, klein aussehen. Es knisterte, etwas Elektrisches lag in der Luft, aber es roch nicht nach Gewitter. Kampmann fragte sich, was hier vorging.

«Ich sollte mir ein Zimmer nehmen, einen Abendlauf angehen und morgen auf die Insel fahren», dachte er bei sich. Wurde es gefährlich? Bildete er sich diese Spannung nur ein? War es der Beginn eines stürmischen Abends? Ist ja nichts Besonderes an der Küste. Ist dann ja immer so ein Gefühl, als stehe die Welt vor dem Untergang. «Ich weiß nicht, was ich hier verloren habe. Oder wer mich hier verloren hat. Aber heute fahre ich nicht zur Insel ’rüber.» Und schon schlenderte er wieder zurück zur Uferpromenade, hockte sich in eine Gastwirtschaft, bestellte ein alkoholfreies Bier und dachte an frischen Fisch. [Fortsetzung folgt vielleicht]

Soundtrack: Leo Brouwer, Guitar Music Volume 1, Estudios sencillos, Tres apuntes, Canción de cuna, Ricardo Cobo, Naxos 8.553630 LC5537, 1997