Wie lang war er jetzt unterwegs gewesen? Nicht so weit und so lange wie Bina und Cat, und bevor die beiden in den Tiefen des Alls in Vergessenheit geraten, wollen wir einen Blick in Richtung Messier 89 werfen, um herauszufinden, ob die Gestrandeten ihrem Ziel, wieder in die Heimat zurückzukehren, nähergekommen sind. Cat war ja immer so optimistisch. Ihr zupackender Frohsinn, gepaart mit der Schnoddrigkeit einer berufszynischen Gleisbauarbeiterin brachte den Laden mit ihrer praktischen Art nach vorn und riss alle Menschen in ihrer Umgebung zwangsweise mit. Was natürlich auch ihrer gloriosen Erscheinung geschuldet war. Erinnern wir uns gemeinsam: Einiges war an der Erzählung, die wir an dieser Stelle wieder aufgreifen wollen, rätselhaft, ohne dass es uns, geschweige denn unseren beiden Heldinnen besonders aufgefallen war. Denken wir an den Archäologen beispielsweise. Am 10 Juni 2023 Standardzeit war der angekündigt worden. Cat meinte, er werde sich selbst replizieren. Ist er jemals erschienen? Nein. Ob er noch das Licht dieses Sterns vom Planeten in der Galaxie M 89 aus erblicken werden wird? Wer kann das wissen. Im Lauf der Geschichte ist er einfach vergessen worden, oder er hat sich selbst vergessen. Was wäre gewesen, wenn auf der 耳の神様 die Brutmaschine den anscheinend irgendwann verstorbenen Wissenschaftler nach Plan oder gemäß der Aussage von Cat reanimiert hätte? Und wie war das dann noch? Auf dem Plateau in Nachbarschaft ihres Basislagers fanden Bina und Cat diese denk- und merkwürdige Grafik, Inschrift, Zeichnung oder was immer es gewesen sein mochte. Wäre der Archäologe mit von der Partie gewesen, hätte das gemeinsame Wissen bzw. der dann mögliche Zugriff auf das Denken und das Wissen eines Experten eventuell zu einer schnelleren Lösung, sprich zur Erkenntnis über den Gehalt und den Sinn und Zweck der Installation geführt. Nun überdauerte die genetische Information in den Datenspeichern des Raumschiffs, die Synthesebrüter blieben stumm, aber – oh Wunder – die beiden kamen tatsächlich einen Schritt weiter.
«Bina, los geht’s. Der Rechner ist mit seiner Arbeit fertig. Der Ergebnissstream trifft gerade ein.» Das war der spannendste Augenblick seit ihrer Landung auf diesem paradiesischen Planeten und dem Entfalten des Teleskoparrays. Gemeinsam starrten sie auf die Holografie, die ihnen der Quattrocorder vorgaukelte. Am oberen rechten Rand der Darstellung verriet die Maschine, dass sie es für 96 Prozent wahrscheinlich hielt, was da vor den Augen der beiden entstand. Schicht für Schicht baute sich aus orangefarbenen Lineamenten, ausgehend von einer stark abstrahierten Fassung des Steins, den beide oben auf dem Plateau analysiert hatten und auf dem diese merkwürdigen Zeichen zu sehen waren, eine gigantische Gestalt auf, eine Mega-Architektur. Wenn die Situation ein wenig mehr Heiterkeit evozieren würde, käme vielleicht Bina, wahrscheinlicher aber Cat, sofort auf den Gedanken, das Gebilde mit einem riesigen Rettich zu vergleichen. Der steckte also unterhalb der Oberfläche und reichte bis tief hinein in den Planeten. «Unvorstellbar, wenn ich es nicht selbst sähe», staunte Cat. «Was für eine abgedrehte Nummer ist das?», fragte Bina. Das Holo gab noch eine weitere Information frei, die den Lauf der Dinge maßgeblich beeinflussen wird. Es kommt zu Diskussionen. Das ist gewiss. Oder?
Beide lesen die Details des Diagramms, das immer detaillierter wird. «Ich habe es Dir gesagt. Ich habe Dir gesagt, dass das Ding hier etwas mit Transport zu tun hat. Habe ich es nicht gesagt?» «Hast Du, Süße, hast Du.» Aber bei aller Freude über die Berechnungen ihres Computers hatten sie nicht vergessen, dass es sich um eine spekulative Projektion dessen handelte, was dem Rechner an Informationen zur Verfügung stand. Die Wahrscheinlichkeit, dass vier Prozent auf einen blöden Stein mit eingemeißeltem Eingeborenenkram schließen ließen, brachte sie allerdings in keiner Weise aus der Ruhe, denn aus dem Häuschen waren sie längst. «Wir müssen herausfinden, wie wir es nutzen können. Wenn der HUSAR korrekt gearbeitet hat, handelt es sich bei diesem Planeten um ein gigantisches Drehkreuz. Und wir müssen entziffern, wohin wir von hier kommen und ob es Wege zurück gibt.» Im oberen linken Geviert der hochformatigen Grafik sahen die beiden die Darstellung ihres Himmelskörpers, auf dem sie sich gerade aufhielten. Und genauso wie die Poren der Haut in tiefere Schichten führten, bohrten sich Rettich an Rettich über den gesamten Planeten in den Untergrund. Das sah aus wie ein nach innen gestülpter, igeliger Massageball für die Handinnenflächen. «Himmel, ist das abgefahren», konstatierte Bina. Cat nickte nur mit dem Kopf. «Wie bringen wir es in Gang?» «Ich denke, es ist an der Zeit, eine Expedition zu unternehmen. Lass’ uns andere von den, nennen wir die Dinger doch einfach Katapult, suchen, um herauszufinden, ob es so etwas wie ein Koordinatensystem gibt. Vielleicht haben wir nun endlich eine Chance, wieder zurückzukommen.» «Dein Wort gen Gott der Ohren gesendet. Möge es hören, möge sie uns leiten.»
Nach einer Weile des Schweigens meinte Bina: «Sie ist unser Schiff. Sie wird es nicht ohne Grund auf diese Weise gerechnet haben. Was sind nun die nächsten Fragen, die auf Antworten warten? Ich spekuliere fragend: Wie hoch ist die Streudichte der ‹Katapulte›, wenn es welche sind? In welchem Abstand zu unserem Standpunkt befinden sich die nächsten? Wenn das Netz gleichmäßig gesponnen ist, sind wir dann im Zentrum eines n-zahligen ‹Kreises› aus jenen Katapulten? Werden wir, wenn wir a. andere Plateaus finden, mehr Zeichen finden, die uns möglicherweise b. zu einem Sprachverständnis ihrer Erbauer führen können?» «Mein Sugar, wie ich sie liebe; wie immer scharfsinnig und auf der richtigen Fährte. Lass’ uns das herausfinden. Ich mutmaße, dass wir schon bald klüger sein werden. Jedoch frage ich mich, warum wir hier gefühlte zwanzig terranische Jahre verbringen mussten, um auf den Trichter zu kommen.» Mit einem Seufzer erwiderte Bina: «Manchmal sind wir eben auch nicht die hellsten Kerzen auf der Torte des täglichen Jubiläums des Reisebüros vom intergalaktischen Wahnsinn.» Und so lagen sie sich lachend in den Armen und machten sich daran, der Sache auf den Grund zu gehen.
«Wie weit soll das nächste Objekt entfernt sein? Was sagt das Schiff?», fragte Bina. Nachdem sich Cat einmal im Kreis gedreht hatte, zeigte sie auf eine Landmarke, an der beide schon hundertmal vorbeigekommen waren: «Da drüben, in zirka einem Kilometer Entfernung soll der nächste Radi in die Geologie reichen. Ebene, mäßig bewachsen. Kein Plateau wie hier. Schauen wir im Shuttle nach, ob wir die Tools unseres nicht erwachten Kollegen hier unten haben.» Also packten sie ihre Siebensachen und machten sich auf den Weg mit Feilen, Pinseln, Handbesen, Lupen und allerlei anderem Krimskrams, an dem Heinrich Schliemann seine Freude gehabt hätte. Mit dem Quattrocorder peilten sie die Koordinaten an, die ihnen HUSAR von der耳の神様 geliefert hatte. Sie wunderten sich über den Spaziergang. Und dass in dieser Nähe eine weitere dieser merkwürdigen Installationen platziert worden war. Denn sie hatten an all den Tagen ihres unfreiwilligen Exils nichts davon bemerkt. Also würde Arbeit auf sie warten, um Nummer zwei ausfindig zu machen. Nach gut zehn Minuten strammen Schritts ertönte eins dieser ätherischen Signale aus dem Lautsprecher der Navigationshilfe. An Vegetation und Erscheinungsbild der Landschaft hatte sich nichts verändert. Man sah, dass man nichts sah, was man nicht auch schon zuvor gesehen hatte. Diese Landschaft verbarg nicht allzu viel. Die Abstände, mit der höherwachsende Pflanzen den Boden versteckten, waren recht groß. Der Blick zurück brachte ihnen nichts als ihr Plateau vors Auge; alles erschien wie der geologische und botanische Zufall eines sich selbst überlassenen Areals. Also normal. Auf dem Boden sahen beide nichts, obschon der Quattrocorder sie exakt hierhin gelenkt hatte. Kein Zweifel, das war der Ort. Also holten beide ihre Pinsel aus den Halftern und hockten sich nieder, um nach Hinweisen auf eine weitere Absprungstelle zu suchen. Denn das war klar, wenn es sich wirklich, wie HUSAR spekuliert hatte, um ein Transportsystem handelte, das die Grenzen des Planeten ignorierte, dann müsste es etwas mit Entmaterialisieren zu tun haben. Dann aber sind ohnehin alle Grenzen irrelevant. Wenn die Wissenschaft einer Zivilisation es geschafft haben sollte, eine Entität in reine Information oder, noch weniger, in reine Quantendaten zu zerlegen, dann gäbe es keine Distanzen mehr. [Fortsetzung folgt vielleicht]
Soundtrack: Kamasi Washington, Fearless Movement, Young (5), YO350LP, 2024