Aus Kultur und Geschichte

In der Umlaufbahn kreiste die 耳の神様. VLUOTA sah in die Ferne und entdeckte lediglich, dass die Trennung von Zeit und Raum ein Konstrukt der irdisch-planetar Verhafteten war. Cat und Bina hockten im Staub. Eine Weile hatten sie schweigend und in Gedanken versunken vor sich hin gearbeitet. «Wir denken zu irdisch. Wir denken, alles habe etwas mit Bewegung und Fortkommen auf einem Weg zu tun. Wir denken zu linear. Unser gesamtes Denken projiziert seit Jahrhunderten, vielleicht schon von dem Augenblick an, als Bewusstsein über uns kam oder in uns erwachte, lässt sich auf zwei Prinzipien reduzieren: Linearität, Binarität. Wobei Begriff zwei nicht als Kalauer gemeint ist», scherzte Cat. Sie fasste zusammen, was anscheinend Lage war. Irgendetwas hatte die beiden, und sie wussten ja, dass ein vollkommen irrsinniger Antrieb real geworden war, hier in maßloser Übertreibung erscheinen lassen. Ihr war gerade sehr deutlich geworden, dass sie und wahrscheinlich auch kein anderer Mensch jemals dazu in der Lage sein würde, nachzuvollziehen, wie das Verhältnis zwischen Raum, Zeit und anderen Vektoren zum Verstehensraum im Innern des menschlichen Gehirns aus einer distanzierten Perspektive wahrgenommen werden würde. Wir hatten nur uns selbst. Und andere sahen das sicher anders. «Der menschliche Geist ist ein Käfig. Keine noch so clevere Formel kann es auf den Punkt bringen, was mit uns geschehen ist oder geschieht. Allein meine beiden Vokabeln hier, ‹geschehen› und ‹geschieht›, sind verhaftet in einer Linearität, von der wir meinen, dass sie der Raum ist, in dem wir stattfinden. Das betrifft unsere Sprache, alles. Es ist keine Ausprägung von Simultaneität denkbar. Daher lässt sich in uns immer alles auf ein ‹Vorher› und auf ein ‹Nachher› rückkoppeln. Das dazwischen blenden wir aus, und schon haben wir zwei Pole. Wie den Nord- und Südpol.» «So ist es, und wir müssen uns natürlich die Frage beantworten, ob wir uns damit abfinden können. Vor allem wenn wir wirklich wieder nachhause wollen. Wollen wir das?» Das war eine interessante Frage. Denn als die beiden damals noch auf der «Der Hermeneutische Zirkel» die Erdumlaufbahn verließen, war es weniger gut um den Planeten bestellt. Überall herrschte eine intellektuelle Rückschrittigkeit, weil die Menschen nicht mit den Aufgaben der Gegenwart klarkamen. «Das war schon immer so. Also machen wir’s so», war die Devise. Während ihnen die Naturwissenschaften und die Philosophie verdeutlichten, dass es ein «Weiter-so» nicht geben dürfe, polarisierte sich eine Gesellschaft, deren Mütter und Väter es geschafft hatten, Nationalismus zu überwinden. Das waren die Zeiten vor dem Umbruch, als die Zeitnazis unter Bröno Selfmachteger-Spretz versuchten, zum wiederholten Mal die Weltherrschaft zu erlangen und es dann wieder einmal nicht schafften. Der Dauerzwist schlechthin. Dieses Hin und her dauerte gefühlt ewig und führte zu Ressourcenverschwendung und Ausbeutung sowohl des Planeten als auch der Schwächeren. Und alle ließen sich das Treiben der verschiedenen Kräfte im Widerstreit gefallen. Aber es gab einen Zeitpunkt, zu dem kluge Menschen über das wüste Land schauten, das Kriege und der fortwährende Raubbau hinterlassen hatten, und die verbliebene Menschheit zu überzeugen verstand, sich und die Umwelt anders zu denken.

Natürlich hatte auch die RDS nicht dafür sorgen können, dass Friede, Freude, Eierkuchen herrschten. Die Menschheit wühlte im Dreck, schlimmer noch als je die freien Vorfahren dazu gezwungen gewesen waren. Diesen nicht allzu glorreichen Abschnitt auf dem Zeitstrahl konnte man getrost als die Jahre der Hölle auf Erden bezeichnen. Die Zäsur war einschneidender, als alles, was es zuvor gegeben hatte. Es hatte einen gigantischen, elend lang andauernden Krieg gegeben, der noch einmal alles, was Menschen je geschaffen hatten, vaporisierte und diese Lebensform in die vollständige Absurdität zwecklosen Dahinsiechens trieb. Was andere, die davon profitierten, dann Wiederaufbau nannten. Und genauso, wie der Rest der Welt, waren auch die Dudes so gut wie annihiliert. Wie viele «Stunden null» hatten die Menschen gebraucht, um an den einen Punkt zu kommen, von dem aus es möglich werden würde, gemeinsam etwas ohne externe Feinde zu errichten, das allen Wesen auf dem Planeten zugutekommen konnte? Die Erinnerung daran war verblasst. Nach all’ dem Töten und Zerstören begann trotzdem eine Art «Goldenes Zeitalter». Und in der Abfolge dieser periodischen Wechselzeiten lag erneut das Drama der Menschheit geborgen: in der Unausweichlichkeit der Geschichte eines Lebewesens, das sich erkühnte, über die Kräfte der Umwelt hinauszugehen, um den Planeten nach seinem Willen zum vermeintlich Positiven umzugestalten. Was aber nie lange hielt.

Selbst die RDS fiel der universellen Belanglosigkeit anheim. Die Crew um Karsch, Büttner, Kampmann und um die anderen in der Bande machte sich Lächerlich, erfand immer neue Geräte und Medien zum Transport der unwichtig gewordenen Botschaften, denn schon längst war der Common Sense, der Kitt der Wahrheit und seiner lustvollen Opposition, aufgekündigt, und man hatte sich in ein Zeitalter der Humorlosigkeit hineinmanövriert. Und wo die Abwesenheit von Selbstironie regiert, kann kein Gemeinwesen existieren, das einen Wandel zum Besseren ermöglicht. Das war das Faktum. Es spielte keine Rolle, ob die vorzugsweise männlichen Protagonisten des Untergangs im Kontext von Religion oder Politik oder Kunst oder was auch immer agierten: Getrieben von der Gier und Obsession des Wachstums ihrer eigenen Pfründe, wucherten Diktatoren wie Spaltpilze aus den Rhizomen der Dunkelheit und des Zerfalls. Es gab Zeugen, die sich eingeschrieben hatten. Einer der berühmtesten Kunstkritiker dieser Zeit, Krewib Wersteiner, bot der Vernunft die Stirn und betitelte seinen Bestseller sarkastisch mit «Wenn’s um die Kunst geht, ist Häme meine Währung». Ein Werk, das damals jeder in der Szene gelesen hatte. Es war nicht viel mehr als ein Symptom der Zeit. Jedoch war immer schon die europäische Tradition der schriftlich fixierten Kritik an vordergründig zweckfreien Kulturerzeugnissen der Gradmesser des intellektuellen Zustands einer Gesellschaft. Und da spätestens im 20. Jahrhundert alle Konventionen, Diskurse und Architekturen der Szene planetarisiert worden waren, pulsierte auch der so genannte globale Süden im Takt aus Biennalen, Ausstellungen und Kritikerwesen gemäß europäischer Blaupause. Da biss damals keine Maus einen Faden ab. Wersteiner ging damals nach seinem Studium von einer Kostenlosgazette über ein Publikationsmedium, das zu einer Verlagsgruppe gehörte, die eher der Unterhaltung zugeneigt war, seinen Gang in die Freiheit des Freelancers und bewarb sich mit bestechenden Kritiken als Edelfeder. Die Irren in der Szene prämierten mit ihm bald ihren Gott und ihr Leitbild. Kam Wersteiner nicht zu einer Vernissage, erschien das Ereignis nicht auf der offiziellen Landkarte des Systems. Natürlich hatte er Jahre darben müssen, bis er endlich in die obersten Regionen gelassen wurde und ins Licht der Bühne trat. Die Konkurrenz war riesig in dieser Domäne hochpreisiger Bürgerlichkeit. Aber er hatte es geschafft. Er war ein Führertyp. Kampmann beneidete ihn anfangs, weil er immer die schönsten Frauen im Schlepptau mit sich zog und brachte. Männer übrigens auch. Menschen. Also alle, sozusagen.

Allerdings hatte Wersteiner einen Schwachpunkt. Er neigte zum Totalitären. Während seines Studiums und der Beschäftigung mit der deutschen Romantik hatte er sich in den Kopf gesetzt, wenigstens ein einziges Mal in seinem Leben auf dem grünen Hügel von Bayreuth alle großen Wagner-Opern zu sehen und zu hören. Das ist an sich nichts Verwerfliches. Es gibt durchaus berechtigte Interessen, diesen Zinnober Jahr für Jahr zu verfolgen, vor allem, wenn man sich über den jeweiligen Dernier Cri in der Aufführungspraxis Gedanken macht. Das aber war bei Wersteiner eine gänzlich andere Motivation. Seine Triebfeder war der Unterleib. Oh, wie peinlich, aber man kann es nicht anders ausdrücken. Er versklavte sich der Vorstellung, im Dunkel des Aufführungsraums vor dem ersten Anheben des Orchestervorspiels von seiner Lieblingsmätresse händisch auf die kurz anhaltende, aber eine intensive, dem Fetisch gemäße Höhe geholfen zu bekommen. Inmitten des knisternden, vorfreudigen Ohrenrauschens der Zuschauer wollte er es bekommen, klamm und heimlich. Die Bedingung für den Genuss war die Abwesenheit von Musik. Es ging ausschließlich um den Raum. In diesen Augenblicken, bevor im Graben die Bögen auf die Seiten gelegt und die Münder an die Instrumente geführt werden, findet im Zuschauerraum etwas statt, was es sonst nur in Wartehallen von Bahnhöfen oder Flughäfen oder Krankenhäusern gibt: Menschen formieren mit ihrer schieren Anwesenheit, dem elementaren Dasein ein imaginäres Volumen, und geben dem Umraum seine Ausdehnung in und mit ihrer massiven und massenhaften Anonymität. Wersteiner erlöste sich mit diesem Hirn- und Unterleibsgespinst kurzfristig von dem Ballast seiner Kunst- und damit Menschenverachtung. Aufgewacht im Alltag, goutierte der Schreiber Leinwände in XXL-Größen, präferierte die Signaturen retroklassizistischer Architekten und liebte Hitlers Reichskanzlei. Je größer das Ereignis, umso interessanter für Wersteiner. Konzerte in Clubs? Eher nicht. Kammermusik? Wo denken wir hin? Romane las er nicht, wenn sie nicht mindestens drei Bände à 700 Seiten plus umfassten. Unser wersteinerscher Ungeist machte Ernst mit der Einfachheit der Größe und schaffte es, aus seiner dem Hobby des größenwahnsinnigen H0-Eisenbahners erwachsenen Verrücktheit einen Stil zu kreieren, der es bei der damaligen Lage medialer Korruptheit in die Breite schaffte, und in diesem Sinne schien er als das geniale Mastermind-Pendant für ein Duett der Teufel mit Bröno zu firmieren, was dann auch nicht lange nach dem Erscheinen des «Denkers» auf dem Markt literaler Eitelkeiten der Fall war. Und das ergab sich so:

Ausstellungseröffnung im Leipziger «Kunstpalast». Hans Albert Walters, Kurator und Hausherr von alter Schule, freute sich. Für die Großschau «Echoes of the Universe – Die deutsche Romantik in der globalen Wirklichkeitskrise» waren alle bedeutsamen Szenegeister angereist. Wersteiner hatte sich längst einen Namen als Sudelfeder gemacht, und als er zur Pressekonferenz, in Schweigen und den neuesten Fummel von Hugo Boss gehüllt, der Würde seiner Anwesenheit den Ausdruck tiefster Zustimmung zum Projekt ausstrahlen ließ, war Walters zufrieden und bot die fällige Sonderbehandlung für den Abend an. Alle Spesen, alle Vergünstigungen, Puff inklusive. Über den Männercode zum Ausdruck gebracht, wunderte sich Walters nur, dass Wersteiner nicht darauf einzugehen gedachte. «Mein lieber Walters, was denken Sie? Bin ich dabei oder nicht? Ich sag’ Ihnen ’was. Nein. Bin ich nicht. Das interessiert mich alles nicht. Sehen Sie zu, dass ich beim Dinner in die Nähe von Bröno komme. Alles andere ist mir egal. Und von Ihrer Offerte nehme ich gern die Einladung zur Übernachtung an, und wenn Ihr Team bitte so freundlich wäre, meine Rückreise entsprechend durchzubuchen, können Sie mit meiner unendlichen Dankbarkeit rechnen.» Walters brodelte, denn er mochte es ganz und gar nicht, auf diese Weise vorgeführt zu werden. Und er hatte Wersteiner unterschätzt. Wie hätte er es denn besser wissen können? Schließlich war dessen Liebe zu exklusiven Etablissements mit Mietkörpern mittlerweile legendär. Wie konnte sich dieser Federkiel nur so arrogant gegen das Wahrscheinliche beziehungsweise Berechenbare stemmen? Nun es verhielt sich eben so, und daran sollte sich nichts mehr ändern. Denn: Kam er den Wünschen des Herrn der Worte nicht nach, würde seine großartige Schau, der drei Jahre Forschung und das ewige Ringen um Fördermittel und Sponsoren vorangingen, in dem letalen Vokabelabort unseres Tintentöters hinabgespült, vergehend, verstrudelnd in der Kanalisation der ganzen Nichtigkeiten dieser kulturellen Zeitläufte. Mit der Folge, dass die Besucher ausblieben. Dass die Gespräche ausblieben. Dass die Filmchen ausblieben. Die Posts, und alles, was dazu gehörte. Denn: Wersteiner verstand sich bestens darauf, Blockbuster zu Rohrkrepierern zu verurteilen. Wer neben ihm Größe zeigte, nicht aber seinen Regeln folgte, selbst wenn er, wie im Fall Walters den Geschmack des Meisters aus Deutschland traf, bekam die Tür zu einer Eiszeithölle aufgesperrt und durfte dort mit Wersteiners Gnaden in endloser Dankbarkeit erfrieren. Solle er sich doch mehr anstrengen, dann fiele das Urteil vielleicht milder aus. Würde dann die Außensicht in den Kanälen den unbefangenen Rezipienten vermitteln. Die Kritik hatte in jener Zeit Ausmaße an Wirksamkeit angenommen, die in keiner vorherigen noch nachfolgenden Zeit derart über das Überleben von Akteuren zu bestimmen vermochte. Leben wurden zerstört oder zu Reichtum und Wohlstand geführt. Interessanterweise hatte das in der Regel, zumindest, wenn man sich die Produkte oder Konzepte mit einer methodisch geschulten Brille besah, nichts mit Qualität, Komplexität oder einem gewissen Grad an Intelligenz ihres Unterhaltsamkeitsgehalts zu tun. Doch wie stets in medialen Totalitarismen fiel das niemandem auf, der eine Stimme hatte. Walters ging also auf alle Konditionen ein, und Wersteiner konnte es nicht erwarten, Selfmachteger-Spretz endlich von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten. [Fortsetzung folgt vielleicht]

Soundtrack: Laibach, Opus Dei, Mute, Stumm 44, 1987