Venedig und wieder Trsteno

Wieder stand die Piasa San Marco unter Wasser. Kampmann traf Femaroll in strömendem Regen Anfang Oktober 2024. Sie hatten beide die Nase von Geheimdienstoperationen gestrichen voll. Doch diese Stadt ließ Ruhestand in jenem Gewerbe keineswegs zu. Es war bereits spät. Femaroll hatte das Firmenfahrzeug in Tronchetto ins Parkhaus geparkt, fuhr mit dem People Mover über den Hafen hinweg und ließ sich per Vaporetto zum versteckten Domizil nahe den Giardini bringen. Das Wetter war schlimm. Auf dem letzten Meter hinter Mestre fiel ein Starkregen auf sie hinab, der ihr die Sicht raubte. Sie hatte sich nach ihrer Rückkehr in Brasilien von Cat trennen müssen, da Karsch aus Bilbao wieder einmal eine Schafsnachricht mit Dringlichkeitssymbol auf der SCHUR versendet hatte. Dann also Venedig und ein konspiratives Meeting mit Kampmann. Sie hasste es mittlerweile. Nach so vielen Jahren sehnte sie sich nach Ruhe und Aufenthalt, nach Dauer. Genau das war es: Aufenthalt. Sie blickte in die Tiefe des Parks. Die Zeit war vorangeschritten. Die Kids wurden eingesammelt. Gefahr? Natürlich nirgends. Hey, Venedig, Leute, doch nicht angesichts Millionen von Touristen! Hier gab es zwar immer noch Hütchenspieler, aber die Gondeln trugen Euroscheine und keine Trauer. Die beiden RDS-Agentinnen saßen mit Blick auf die Lagune in den Giardini ein wenig abseits der Biennale, die immer noch Besucher anzog. Bina steckte Kampmann den Zettel mit der Zielperson zu. Er atmete tief ein. Also doch wieder Grönland. Aber warum um Himmels Willen Ika Mamna? Und was sollte er hier mit dem denn anfangen. Der war nämlich so ein Sportsass und der Liebling von Karsch und allen Schwiegermüttern der nordwestlichen Hemisphäre, mindestens. Wenn er ehrlich war, musste sich Kampmann eingestehen, dass Mamna einer der besten von ihnen allen war. Der hatte damals versteckt unter den Hairy Armpits gelebt und geschafft, was Kampmann, der sich natürlich sofort in Margret, ihre Anführerin, verliebt hatte, eben nicht draufhatte: professionell unterwandern, ausspionieren und -spielen. Und Erfolgreich sein gegen die aggressive Brutalität dieser Katanas schwingenden Zweiradbande. Kampmann seufzte. Nun, also durch, briefen und ab die Post. Bina und er sprachen über die Ermüdung. Sie stellten sich vor, dass sie zu dritt irgendwo auf dem Land einen Bauernhof restaurierten. Und dann hätten sie die Tiere, die niemand mehr wollte. Und sie hätten ihre Kinder, ihre Ruhe. Und sie hätten dann nicht mehr diese elenden Reisen in ein Nirgendwo. Es gab ein Problem mit dem Erfolg. Der nämlich blieb aus. Und nach dem intensiven Gespräch mit Karsch, Mamna, Femaroll und ihm in einem famosen Ristorante auf der Via Garibaldi, zu dem Karsch die Jobs verteilte, wusste Kampmann, dass er wieder nach Kroatien fahren würde, während Bina ins Genfer CERN abberufen wurde, wo sie mit Cat Anomalien in den Detektoren analysieren würde. Und Mamna führe nach Deutschland, um in Bayern nach Spuren der Bande von Selfmachteger-Spretz suchen würde. Sie hatten einen Tipp bekommen. Diesmal von ziemlich weit oben aus dem Wirtschaftsministerium. Da hatte sich ein eifriger Rechnungsprüfer über eine Differenz in einer Fördermittelabrechung von 27 Cent hergemacht und förmlich eine Welt in diesen beiden marginalen Zahlen entdeckt und aufgedeckt. Wann bloß hörte das auf. «Mit dem Tod», beantwortete Kampmann sich diese Frage und trauerte den schönen Momenten in Venedig nach. Also, erfolgreich sein.

Hart wie Beton: Man kann sich an diesem Bild versuchen. «Alter, was ist?» Das schreit er viel zu laut an diesem Morgen. Da liegt einer, der da nicht hingehört. Dessen Haut, das sieht er, ist anders als die eines Mannes, der noch zu antworten in der Lage gewesen wäre. Mit dem Aufschrei hat er sich gehen lassen. Das wäre auch nicht anders möglich gewesen, denn das Bild ist zu wirklich. Es dissoziiert ihn in Auge und Geist. Und sein Kopf wird eine Wunde angesichts dieses kleinen Äußersten, das sicher jeden Tag Hunderte Male auf dem Globus irgendwem passiert. Warum es ihn nun ereilt, diese Frage stellt er sich nicht, denn er hat viel zu viel damit zu tun, herauszufinden, was er da sieht. Dann bewegt er sich zögerlich auf den Liegenden zu. Die Hand, seine Hand, sie bewegt sich mit Widerwillen. Seine Gedanken führen dieses körpereigene Werkzeug zitternd-hektisch an die bläulich-braune Oberfläche der Schulter eines Menschen, dem er noch niemals begegnet ist. Er berührt Haut; sie ist markerschütternd, schreiend kalt. Das Gesicht, das sicher auch von dieser Haut gebildet wird, sieht er nicht; vielleicht doch, allerdings ist die Erinnerung umgehend verblasst, so als wolle ihn sein Unbewusstes vor der Schlichtheit dieses gewaltsam induzierten Todes in Schutz nehmen und vor schlechten Träumen bewahren. Es ist ein durchschnittlicher Donnerstagmorgen im frühen September eines durchschnittlichen Jahres in der durchschnittlichen Region an einem durchschnittlichen Fluss, an einem ebensolchen Acker, an dessen Ende dieses kleine, baumbestandene Stück Schonung den Übergang zum wildbewachsenen Altwasser bildet: eine Idylle, die aufgrund der Botanik schwer zugänglich ist. Nur im Vorhof des Grüns ist der Zugang physisch erlaubt. Der Wirtschaftsweg ist zweckorientiert um den Acker laufend. Der kleine Hain ist schattenspendend. An diesem Morgen riecht es weder nach Sommer noch nach Vorherbst. Die Sonne scheint, wie die Sonne eben scheint. Nichts Spektakuläres. Kein Drama. Nur Mücken, die nerven, wenn man stehen bleibt. Unbeteiligt: der Hund.

Noch einmal von vorn: Es ist ein stinknormaler Morgen im Spätsommer eines Sommers, der wieder einmal viel zu heiß gewesen ist, genauso wie alle vorhergegangenen Sommer der vergangenen Jahre. Er steht wie stets um 5.30 Uhr auf, trinkt Kaffee, liest Zeitung. Dann streichelt er seine Hündin, wärmt sich zehn, 15 Minuten auf und zieht seine Laufschuhe an. Das leichte Gelände wartet auf ihn. In bester Stimmung legt er sich den Bauchgurt um. Er schirrt das Tier ein, nimmt es an die Leine, öffnet die Haustür, nachdem er seine Sportuhr auf «Trailrunning» gestellt hat und trabt los. Langsam heute, da er noch rekonvalesziert nach einem anstrengenden Wettbewerb, den er am Wochenende in der Hitze dieser Jahreszeit auf glühendem Asphalt absolviert hat.

Das alles ereignet sich in dem Schatten des kleinen Stücks dicht bewachsenen Lands im dörflichen Speckgürtel eines mittelgroßen Oberzentrums in einer beinahe herrlichen Urlaubslandschaft. An der einen Seite fließt im Süden träge wie stets die Donau. Im Osten liegt ein Acker, der bereits abgeerntet ist. Der Mann musste von Norden aus Richtung des Dorfs gekommen sein. Also von der Hauptstraße, die in die Stadt führt. Als Ika Mamna nach der eher trübsinnigen oder besser melancholisierten Besprechung wieder zurück aus Venedig in seinem Einsatzgebiet angekommen war, hatte er zum morgendlichen Laufen natürlich kein Telefon dabei und war heimgefahren, um die Polizei zu benachrichtigen. Dann war er mit dem Fahrrad wieder losgefahren, um schneller vor Ort zu sein, damit er die Ordnungshüter einweisen konnte. Nördlich von der Leiche blieb er auf dem Weg stehen. Herkömmlicherweise läuft er hier einfach weiter. Nun steht er und wartet nach seiner Meldung und mit Telefon auf die Polizei. Dem Toten gewährt er die würdige Distanz. Der Übergriff, der sein musste, war bereits geschehen, mehr wollte er nicht. Diese Situation hat ihn im Griff. Er ist extrem beherrscht und ruft alles ab, was er gelernt hat. Er ist noch nicht lange im Dorf. Er hat sich integriert. Er geht scheinbar einer geregelten Arbeit nach. Die Bewohner lernen ihn als einen freundlichen, hilfsbereiten, wenn auch ein wenig gesprächigen Nachbarn und Mitbürger kennen. Noch weiß Ika nicht, was der Hintergrund für den Fund ist. Er hat den Mann außerdem nicht erkannt. Er hat sich genauso verhalten, wie man sich, wenn man ein ziemlich durchschnittlicher Mensch ist, verhalten würde. Daher spricht ihn nun die Polizei an, und er simuliert einen Wattekokon, der ihn erscheinen lässt, als wäre er nicht ganz bei der Sache. «Herr Mamna, brauchen Sie Hilfe?» «Nein, nein, lieben Dank, dass Sie nachfragen, aber mir geht es ganz gut. Ich denke, ich bin schussfest, wenn man das so sagen kann. Ich habe übrigens nur Lob für Ihre Kollegen. Sie sind alle sehr freundlich und sensibel.» «Das ist sehr freundlich von Ihnen. Das hören wir selten. Jetzt brauchen wir Sie nicht mehr. Sie können heimfahren. Es kann sein, dass die Kriminalpolizei sich noch bei Ihnen meldet. Vielen Dank für die angenehme Kooperation.» Und damit war Ika entlassen.

Er verabschiedet sich und denkt an Bina, die nun sicher schon wieder mit Kampmann unterwegs sein wird. Sie wissen, dass Selfmachteger-Spretz immer noch in Kroatien in der Nähe des Grand Hotel Europa auf Lopud sein Unwesen treibt. Der Sommer im Arboretum von Trsteno steckt allen in den Knochen, aber sie wissen auch, was zu tun ist. Ika bemüht PILZ und sendet eine Nachricht ins System, das über seinen Zustand Auskunft gibt. Der ist raus und sowieso nur die Erfindung einer italienischen Kellnerin gewesen, die Kampmanns Namen bei der Tischreservierung nicht korrekt verstanden hatte – heißt es offiziell. So flog die Tarnung unseres Helden jedenfalls nicht auf. «Wir müssen uns also doch wieder auf Kroatien konzentrieren», meint Karsch und dreht entsprechend die Schafe mittlerweile wieder im Baskenland. Dennoch waren sie zu dritt in den Giardini, aber es gibt keine Fotos, und weil immer noch schönes Wetter war, tummelten sich Millionen von Touristen in der Stadt, so dass sie schlicht nicht da waren, obschon sie so lange an solch exponierter Stelle am Viale Giardini Publici auf einer Bank im Park in der Nähe von Giuseppe Verdi saßen. An Kunst war nicht zu denken. Die Menschen waren schön und zumeist sehr unbeschwert. Und ja, alle waren es leid. Wann nur sollte das alles einmal enden. Den Mann an der Donau hat das Leben nicht ausgehalten. Viel zu jung hat er sich das Leben genommen. War das nun für Ika Mamna ein Zeichen, endlich auszusteigen? Das hier ist eine sehr merkwürdige Geschichte, dachten alle bei sich. Sie alle hatten sich in Venedig verständigt, dass es ihnen reichte. Und das ist sicher nicht gut für die Motivation. Wie also würde es weiter gehen? Würden sie aus der verbleibenden Spanne ihrer Anwesenheit in diesem Universum noch etwas anderes machen können als RDS-Dienste leisten? Und wo war nun das Lustige daran, das ihnen früher die Arbeit versüßt hatte? Man stelle sich vor, dass an drei Stellen auf diesem Planeten drei ganz unterschiedliche Charaktere sitzen, die alle denselben Gedankenfaden spinnen. Welchen Einfluss hat das in einem Universum, in dem Raumschiffe mit Worten betrieben werden? Mir schwant nichts Gutes. Ich schließe das Fenster und ziehe den Vorhang zu. Dann nehme ich auf dem ledernen Sessel Platz und lege meinen Pelikanfüller und das Notizbuch beiseite. Ich bin unsagbar traurig. Heute bringt mich die Endlichkeit um den Verstand. Mein Ich muss hier wieder verschwinden. Es tut dem Geschehen nicht gut und nimmt Einfluss auf den Lauf der Dinge. Bleiben wir im Plan. Venedig verarbeiten. Mamna spielt seine Rolle im bayerischen Dorf auf der Suche nach den Verstecken der Zeitnazis. Bina verzieht sich in Richtung Schweiz, und Kampmann hat nichts Besseres zu tun, als Lopud anzusteuern und zum Jazzfestival in Smoking mit den anderen… Ach nein, da war noch etwas. [Fortsetzung folgt vielleicht]

Soundtrack: Underworld, Strawberry Hotel, Smith Hyde Productions, UWR00098LP, 2024