Wersteiners Ende

Am nächsten Morgen saß Kampmann auf einer unbequemen Holzbank unter dem Sonnensegel des Touristenbootes, das ihn zusammen mit vier anderen Reisenden an der Küste bei Dubrovnik durchs Mittelmeer transportierte. Er hatte in seiner bescheidenen Bleibe gefrühstückt und nach einer gehörigen Mütze erholsamen Schlafs zum Telefon gegriffen und Büttner darüber in Kenntnis gesetzt, dass er einer neuen Fährte folgte. Dann ereignete sich Folgendes: Bröno hatte seine Ohren überall. Er wusste zwar nicht, was Kampmann aufs Meer trieb, aber er war zumindest unterrichtet. Wersteiner hatte das Flugzeug verlassen und schwitzte sich in einem Taxi nach Dubrovnik, wo er dann das City Hotel aufsuchte, eincheckte, Nutten bestellte und anscheinend erst einmal ausgeschaltet war. Margaret dampfte in die Stadt, stellte, ihrem Instinkt folgend, die Ducati in der Žuljanska Ulica ab. Jeder, der sie sah, schaute ihr hinterher. Sie betörte ad hoc alle menschlichen Wesen. Und doch…

Delfine zogen in weiter Entfernung vom Boot durch die sanften Wellen. Tränen füllten Kampmanns Augen. Das hatte er in Europa noch nicht gesehen. Er kultivierte bislang vielleicht kein Auge für diese wunderschönen Tiere, die in der Adria so selten geworden waren, und strich mit seiner linken Hand über das Holz, aus dem die Planken bestanden. Im Inneren war das Boot nur lackiert. Die Maserung kontrastierte die Schönheit des bewegten Wassers. Er genoss das leichte Schaukeln. Ein azurblauer Himmel, leicht verdampfend ins Weiß der Luftperspektive, wolkenlos, dagegen ein greifbar leicht dunkeltürkises Ozeanblau, RAL5020 in etwa, eher heller. Der Rumpf vibrierte leicht. Gelegentlich hing der Gestank verbrannten Dieselkraftstoffs in der Luft. Die Touristen gossen das Bier in ihre Kehlen. Neun Uhr? Na ja, wer will, der soll, dachte sich Kampmann. Er hatte nun kaum noch etwas bei sich. Sein Opinel und einen kleinen Rucksack mit Proviant. Beim Kapitän holte er sich einen Eistee und setzte sich wieder in den Schatten, lauschte den Belanglosigkeiten seines Gehirns und denjenigen seiner Nachbarn auf dem Boot. Schwermut hatte ihn wieder einmal fest im Griff. Er fragte sich offenbar simultan mit seinen Leuten in Trsteno, was der Spaß hier eigentlich sollte. Büttner hatte ihm noch mitgeteilt, dass Margaret nach der Rede vom Heiligen verstört auf ihr Bike gestiegen sei, um das Weite zu suchen. Sie hatten nichts mehr von ihr gehört. Sorgen blieben und die Angst vor dem Zerfall der Ordnung.

Unterdessen trug Margaret nichts weiter als ein harmloses Taschenmesser bei sich. Sie ging auf den verspiegelten, dunklen Würfel zu, der hier nicht hingehörte, durchschritt die überhängende Fassade und trat in die klimatisierte Lobby ein. Sie ekelte sich vor den marmorierten Kunststeinen – oder waren sie echt? Die Kühle ließ ihre Haarbälge hervortreten. Hinter dem Tresen stand ein Typ Marke Proteinriegel. Er trug ein weißes, gestärktes Hemd mit unvorstellbar geschmacklosen kurzen Ärmeln und einem schwarzen Schlips. Margaret konnte kaum an sich halten. Sie hätte diesen geschmacklosen Glatzkopf am liebsten sofort skalpiert. Die Wut nahm Züge von Raserei an, aber nach außen gab sie sich harmlos, Profi eben, und sie fragte mit sexy Lächeln, ob ein gewisser Selfmachteger-Spretz abgestiegen sei. Nein. Aber hier läge eine Bestellung vor. Sagte die Rezeption. Meinte, dass man ihrer kaum vorhandenen Bekleidung ablesen könne, welcher Berufsgruppe sie zugehörig sei. Es ist nicht zu glauben, wie man den Fehleinschätzungen von Männchen ausgesetzt ist, wenn man sich aussetzen lässt. Dachte Margaret, lächelte so, dass dem Rezeptionisten der Mann in ihm zu viel wurde und er sich überlegte, wann er die nächste Pause einlegen könnte, um sich dezent in Richtung Porzellan zurückziehen zu können. Armer Kerl. Dieses Haus, dachte sie, ist so finster wie diejenige Nacht, aus der ich nicht mehr erwachen kann. Alles scheint abgedimmt; Vorhölle der Belanglosigkeit, die vorgeblich luxuriös sein möchte, in Wirklichkeit jedoch geschichtslos an exakt den Baumarkt gemahnt, aus dem die meisten Teile dieses verheerenden Ensembles stammten. Die Türen imitierten Eiche und zeigten Maserungen, die es auf diesem Planeten nicht gibt. Alles ist gemasert. Abgemasert. Selbst der Beton. Konzentriere dich, Margaret. Schaue, wer der Herr ist. «Dritter Stock, Zimmer 305», gab der sichtlich um Fassung ringende Hausangestellte von sich, dabei verlegen in seine Buchungen auf dem Schirm schauend, nur um Margaret nicht in die Augen sehen zu müssen. «Danke schön», quittierte sie Auskunft und Blick und federte das Treppenhaus empor, klopfte, und Wersteiner öffnete. Entsetzen spiegelte sich in den entgleitenden Gesichtszügen des ehemaligen Kritikers, der sich, das wurde ihm nun vollkommen klar, ein wenig zu weit in die Ränke der internationalen Geheimpolitik gewagt hatte.

An dieser Stelle verlassen wir den Tatort, denn zu einem solchen wurde dieses bislang unbefleckte Hotelzimmer, nachdem Margaret eingetreten war und erkannte, welchen Fang sie hier gemacht hatte. Und auch Wersteiner, mit dem Spretz so viel vorhatte, wusste ohne einen Atemzug des Zweifels, wen er vor sich hatte. Pech, so kann das Leben einem wirklich unangenehm und final grausam mitspielen. Andererseits: Wenn eine der schönsten Frauen auf diesem Planeten fürs bittere Ende sorgte, ist das nicht in etwa so, wie einem korrupten 河豚-Koch zum Opfer zu fallen? Wenn es nur nicht so unnötig brutal vonstattengegangen wäre. Diese Hinrichtung vollzog sich wie das Spiel der Katze mit der fetten Maus. Der Kunstkritiker hatte einerseits keine Chance und andererseits keine Stimme mehr. Wir können uns denken, wie sie ihn auf lautlos gestellt hatte, und wir wissen, mit welchem Werkzeug. Alles andere wollen eher nicht wissen. Es reicht, wenn wir wissen, dass Wersteiner mit ziemlich viehischen Qualen verschied, deren Dimensionen jedes Wesen gebrochen hätten. Margaret zog sich aus und benutzte die Dusche unentgeltlich. Sie ihr Barlow Prime-Damast in die hintere Tasche ihrer Custom Levi’s 501-Jeans-Shorts und verließ circa Stunde später ohne Spuren zu beseitigen, aber frisch geduscht, ungeföhnt, ungeschminkt und ohne ein Wimpernzucken wie in Trance das Hotel und ohne den mittlerweile entspannter dreinschauenden Gewichtheber noch eines Blickes zu würdigen, was den Typen wiederum zu einem Bambiblick ermutigte, der als sprechender Ausdruck der Gedanken- und Verantwortungslosigkeit seiner Äquatorregion erschien. Diese unbedarfte Triebhaftigkeit war schließlich verantwortlich für die Leichtfertigkeit, mit der er die junge Dame gehen ließ. Sie setzte sich den Helm auf, ließ die Ducati an und fuhr ums Hafenbecken in Richtung Jadranska Magistrala, überholte wie immer viel zu viele Fahrzeuge, überquerte die Brücke und trieb das Zweirad unnachgiebig zurück nach Trsteno.

«Wieder einer weniger, um den sich die RDS kümmern muss», dachte Kampmann, als er die Nachricht von Wersteiners grausamem Ableben über den Quattrocorder flimmern sah. Er fragte sich, ob er das zu verantworten hatte: diese Raserei, die Margaret überfiel. Es war nützlich, sicher, aber gegen alle Statuten der RDS. Das Boot schipperte weiter in aller Gemütlichkeit. Das Plätschern des Wassers an den Planken, das Tuckern des Motors, das glucksende Lachen der Mitfahrenden schläferten ihn ein, und er dachte: «Nicht schon wieder Raupe.» Doch die Schläfrigkeit kam nicht so metamorphotisch wie damals im Dritten Reich, als er auf der Suche nach Büttner kurzzeitig aus dem Kontinuum fiel. «Das Unmenschliche greift um sich. Diese Welt ist verloren. Die Dunkelheit kommt. Nach einem Zeitalter mittelmäßiger Stabilität bricht nun eins Unordnung, des Egoismus, der Gewalt an: flächendeckend.» [Fortsetzung folgt vielleicht]

Soundtrack: Arnold Schönberg, Ein Überlebender aus Warschau, Anton Webern, Orchesterwerke, Wiener Philharmoniker, Claudio Abbado, Deutsche Grammophon, 431 774-2, 1993