Brauner Zwerg

Als Technikvordenker, als visionärer Spinner, Sicherheitsfreak, Warner, Mahner, Ratgeber, Skriptenschreiber, Unix-Lover. Meinte Karsch, Mastermind der RDS, sich zu verstehen. Und aus all den Erfahrungen hat er Ableitungen gebildet, legitim. Jeder macht sich zu dem, was er ist. Er schrieb zunächst. Sein erstes nennenswertes Buch, «Unix für Geisteswissenschaftler», beschäftigte sich mit der Notwendigkeit, Abschied zu nehmen von den kommerziellen Kapriolen der überhungrigen Datenindustrie. Damals, Omnivore dominierte komplett den Markt für jede Form des Computings, stand er für radikales Open-Source-Denken und freies Publizieren ein. Mit Omnivore, einer amerikanischen Firma, begründete ein Rechtsradikaler namens Egon Murks ein Billionen-Dollar-Imperium. Seine Software war von Anfang an fehlerhaft, und irgendwann war es das, was man gemeinhin unter Kultur versteht: ein Ökosystem aus Produkten, die sich selbst wechselseitig stützten wie der Blinde den Lahmen. Das Prinzip war einfach: Wenn ein System als unsicher erkannt wurde, brauchte es Software, um es sicher zu machen. Die lieferte Omnivore gleich mit. Und nach und nach war der Markt bis auf ein paar Nischen komplett im Eimer. Das wurmte Karsch, denn wer wollte schon mit Schraubenziehern ein Regal bauen, wenn die nur Nägel einschlagen konnten. Immer war es ihm ein Rätsel, dass alle Welt diesen Kram nutzte. Aber darüber zu philosophieren, war ein mäßig zielführendes Unterfangen. Der Markt bekommt zur rechten Zeit am rechten Ort ein falsches Produkt, und schon tritt sich eine Lawine los. Murks hatte ein Momentum. Und nicht nur eines.

Dr. Holger Karsch wälzte unterdessen Handbücher aus der Exotenwelt, las, experimentierte und entwarf eine Vorstellung davon, wie die Gelehrtenrepublik jenseits von Mathematik, Technik und Naturwissenschaften ihre Daten verarbeitet und was das Richtige für Studierende, aber auch das Bessere für Literaten, für Historiker oder Politikwissenschaftler sein könnte. Es war jedem klar, dass die Nutzung von Unix, dieser anscheinend unhandlichen Software, die Sache der Naturwissenschaftler war, aber Karsch hatte sich in den Kopf gesetzt, eine Arbeitsumgebung zu schaffen: so spartanisch wie irgend möglich, so effizient und effektiv wie möglich, so wenig fehlerhaft und -anfällig wie möglich, so schön wie möglich. Kein Wunder, dass der mit diesem Titel keinen Durchbruch erlangte. Es gab zwar derartige Bücher nicht. Aber es wollte auch niemand das lesen. Alles im Unix-Markt richtete sich an Nerds. Selbst wenn das einmal einer angehen musste: Der erhoffte, ersehnte Erfolg blieb aus. Als Denker, Entwerfer, Imaginateur, als Chief Visioneer stand er da: einsam zwischen Buchdeckeln. Denn es ist immer der Autor, der sich aussetzt – mit seinem eigenen Leben und nicht mit fremdem Leben; er begibt sich mit seiner Lebenszeit in die kritischen Momente des Nacherlebens von Selbst- und Fremderdachtem, kombiniert und arrangiert diesen Wust an echten und erfundenen Gefühlen, Ereignissen, Räumen und Dingen und übernimmt so die Verantwortung für seine Geschöpfe und erträgt die Konsequenzen. Wenn es sein muss, in Armut. Was ihm niemals gelingt, denn naturgemäß entgleiten ihm die Schöpfungen immer wieder. Das «Im-Zaum-Halten» ist eine schwierige, wenn nicht unmögliche Aufgabe. Die Margarets, die Kampmanns, die Brönos: Sie alle spielen und leben sich durch ihre selbsterschaffenen Universen, ein jedes Wesen für sich. Ab und an kreuzen sich die Wege, und man geht ein paar Schritte gemeinsam, nur um sich hinterher doch wieder aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen zu trennen. Schmerzen im linken Arm. Zahnschmerzen auch noch. Alt und überflüssig werden und all das, was zum Wesen dazugehört.

Die Hölle war ein Brauner Zwerg und an einem kalten Februarmorgen nach einer Party über ihn hereingebrochen. Wieder einmal. Karsch ruckte hinein. Das war wie einer dieser nicht verschuldeten Blechschäden nach dem Einkauf mit Gefrorenem in den Kühltaschen und Getränkekisten auf dem Supermarktparkplatz. Unspektakulär, aber bösartig unangenehm mit unkalkulierten Folgen und am Ende dann doch viel zu teuer, also jenseits der Grenze des Ärgerlichen, aber noch weit vor dem Königreich des Bedrohlichen, weil man wegen des Wartens auf die Polizei weder das Dinner bereiten noch die Kinder zum Fußballturnier hat bringen können, womit – ach hören wir auf; diese anstrengenden Vergleiche hinken, denn sie haben weder etwas mit der Geschichte noch der Lebenszeit der Protagonisten noch mit irgendeinem Aspekt des Schreibens zu tun. Höchstens mit dem Autor, denn es ist Samstag, und er wünscht sich nichts sehnlicher, als dass ihm dieses Missgeschick heute erspart bliebe, wenn er in den Supermarkt fahren sollte. Die Kaskade an Unbilden kann sich ein jeder vorstellen. Das hier lenkt auch nur vom Eigentlichen ab. Denn: Unmerklich, unvermittelt und selbst verschuldet sprach Karsch den Satz: «Jetzt wirst du mich nicht mehr los.» Diesen Fluch hatte er damals zu Margaret gesagt und auf sich selbst gelegt, als er sie auf dem Heimweg mit seinen bierseligen Scherzen zu unterhalten versuchte. Der triefend-traurige Herbsthimmel machte keine gute Miene zum mäßigen Spiel und nieselte lediglich sein unnachahmliches Westfalengrau auf die sonntäglich schlafende Kreisstadt. Kein Auto hinderte sie, die Kreuzung müde zu überqueren, um dann vor einem Zigarettenautomaten festzustellen, dass ihr ungenügendes Kleingeld nicht ausreiche, damit die von Sauerstoff übersatten Lungen wieder ihren ersehnten, die Wirklichkeit fortpuffernden Rauch erhalten konnten. Er wusste nicht, konnte nicht vorausschauen, was vielleicht werden würde, wenn er sich auf diese Frau einlassen würde. Und was hieß für ihn später? Etwa «Einlassung»? Gewohnheit und Gewöhnlichkeit von kranken Zuständen? Und warum krank? Mutmaßungen über Margaret? An der verkehrsberuhigten Straße, die vor seiner alten Schule den Weg zum Ring ermöglichte, versuchte er, sie zu küssen. Nicht so voreilig, bitte. Das ging schief, und er fand es, aus seiner Perspektive als Geist über den Wassern1, der er vermeinte zu sein, betrachtet, lediglich bemerkenswert, dass Margaret so derartig altmodische Kleidung trug. Und er labte sich an ihrer Sprödigkeit, Distanziertheit und vor allem an ihrem scharfsinnigen, geradezu aggressiv-sarkastischen Verstand mit sanft-gekränktem Widerwillen und daher in geringer innerer Auflehnung. Eine braune Stretchhose, gemacht aus irgend so einem schimmernden, weichen Kissenbezugsstoff à la Großmutter. Ein schlabberiger weißer Pullover mit grobem Zopfmuster und mausförmig braune Schuhe, die billige Metallschnallen zierten, die man zum Schließen durch kleine verchromte Löcher zupfen musste, um das ganze langweilige, wenig kostbare Leder und das noch weniger originelle Design verschließen zu können. Darüber brüllte eine tiefblaue Steppjacke aus glänzendem Chintz, die auf dem Rücken mit bunten Kranichen oder Flugenten, wie von den billigen Wandbildern aus China, sicherlich maschinell bestickt war. Und dann trug sie noch – dies nur der Vollständigkeit halber – dicke, weiße Wollsocken, die an den Enden der Hosenbeine jedes Stückchen Mensch versteckten. Keine Stulpen. Das Fremdartige, Kindsartige, dieser Stillstand in einem Gestern, das es niemals gegeben hatte, das ihn, den vermeintlich Modischen, aus der gesamten Anmutung mit Widerwillen, aber dennoch: ansprach, gepaart mit dieser spießigen Biederkeit ihrer gesamten Haltung, interessierten ihn; warum das so war, wurde ihm allerdings nicht sonderlich bewusst. Ihre Herkunft hatte sich verschleiert, und erst viel später entdeckte er sein Fatum. Was er in diesem Augenblick jedoch leider als Glück empfand. Das, unter den Gesichtspunkten zeitgemäßen Bekleidens, Erschrecken über ihr äußeres Bild verpuffte in der abgestumpften Bierseligkeit, in der er neben ihr vor sich hin trottete. Er hatte beschlossen, zu erobern. Schon vorher, während noch im Keller der Party das Bier floss. Denn die Nacht macht sehnsüchtig und mutig, den scheinbaren Willen in der Hirnschwemme auszuleben.

Und schließlich kam es ja nicht auf die Schale an, wie man schon im Kindergottesdienst beigebracht bekam. Vielleicht entwickelte sich die Sympathie aus der Einsamkeit zu zweit, die in den letzten Stunden und mit den Launen, welche die Übermüdung an ihm ausließ, einen Anflug von Geilheit und anderen seltsamen Gefühlsregungen und -mischungen produzierte, die nach einer schlaflosen Nacht mit viel Alkohol und der traumlosen Ausnüchterung in einer esoterisch gefühlten Wachheit zu einem charakteristisch schrägen Stimmungsgemenge amalgamierten, das er sehr mochte, da er in dieser Verfassung die Welt mit anderen Augen zu sehen verstand. Aber.

Bei allem Unschönen ihrer Kleidung, bei aller Geschmacklosigkeit ihrer Erscheinung – man bedenke, dass die Selbstdefinition über Kleidung damals wie heute eine wichtige Rolle in dem kommunikativen Entertainmentmuster der Menschentaxierung und Menschenverurteilung spielt und spielte –, erweckte sie seine tiefe Zuneigung, zumindest das, was damals als solche verstanden wurde, später vielleicht nicht mehr von Mitleid zu unterscheiden war. Sie ging mit wiegendem Schritt. Schaukelnd-elegant wie ein Wüstenschiff, nein, wie ein Nachen, denn, na, werde nicht albern. Und höre er bitte auf zu lästern. Das fällt nur auf dich zurück. Nicht der geordnete, sondern der instinktive Gang, ohne die Korrektur durch die Instanzen der Gesellschaft, die darauf Wert legte, dass das Menschsein als Gesetzeseinhaltungsform qua rationaler, aufrechter, aufgezwungener Haltung zum Ausdruck gebracht wurde. Aber. Sie war geistreich und widerwortig. Widerständig. Und sie liebte Geschichten, forderte ihn heraus, welche zu erfinden. Diskutierte, redete anscheinend Blödsinn und schien zu verstehen, welchen Mist er zu erzählen bereit war, ohne jedoch das zu akzeptieren, was sie zu hören bekam. Dieses Verhalten, man könnte es mit einer latenten Aggressivität identifizieren, hätte ihm früh zu denken geben müssen. Tat es aber nicht. Ein erstes Abtasten und Frontenklären, das bei den nachfolgenden Treffen zum rituellen Abendablauf gehörte. Damals lebte er in dem Zwiespalt von grenzenloser Eigenliebe und -überschätzung sowie einer tiefwurzelnden Verzweiflung über das sich anbahnende Wissen vom Scheitern einer jeden Beziehung.

Sein Selbstbewusstsein charakterisierte den Prozess der sich nun zu festigen sich anschickenden Persönlichkeit. Es war die Zeit der Schwebe im Noch-nicht und Schon-jetzt. Ganz trendy erinnerte seine Kleidung an die Modebewusstheit der Hipster, die in vielerlei Hinsicht das Outfit der Generation der frühen 90er-Jahre zu prägen verstanden. Kurze Haare mit einer knapp ausschwingenden, kanarienvogelartigen Tolle, Cowboystiefel, zerfetzte Jeans, kurze Cordjacke und Armani-Unterhemd, Emporio; klar, das hatte er zum Geburtstag von einer guten Bekannten geschenkt bekommen, die an ihn glaubte und ab und an Gelegenheit bot, bei Besuchen in Köln einen Blick über den Horizont seiner Herkunft, seines Wohnorts in der kleinen Gemeinde bei Witten und seiner Gesellschaft von zumeist ehemaligen Mitschülern zu tun, indem sie ihn mit Menschen zusammenbrachte, die ihm sonst in seinem provinziellen Dasein nicht über den Weg liefen und auf die regelmäßig nicht nur deshalb scharf war. Sondern auch ihrer Schwestern wegen, doch das sind andere Geschichten, die hier keinen Platz haben. Aber diese Frau war zumindest später Bestandteil einer für ihn großen Zeit, die er später immer wieder seine «Goldene Jugend» nennen sollte.

Kerschenbrede, kurz K., der Ort in dem Karsch groß wurde, und in dem er lange Zeit bei seinen Eltern im Haus wohnte, K., dessen Name vielen Kollegen und Bekannten aufgrund der Beschilderung der nahen Bundesstraße bekannt war und von niemandem so recht wahrgenommen wurde, ist ein Schlafort von Mittelständlern aus der nächsten größeren Stadt. Fremde Besucher verballhornten den Namen. Was auch nicht wundernimmt, ist es doch ein allgemein akzeptiertes Verfahren der Aneignung. Im Laufe der Zeit ist ihm das stets aufs Neue begegnet, wenn er etwa seine Wohnstatt irgendwo anders nahm und aufs Land fuhr. Dieser Ort jedenfalls bot die Spießigkeit seiner Bewohner in Echtzeit des Aussprechens schamlos feil. Kein Mensch, der sich in der Welt einen Namen gemacht hatte, war hier zu Hause und wird hier in Zukunft zu Hause gewesen sein. Ein nichtssagendes Straßendorf am Rande der Agglomeration. Trist und langweilig. Hier entsprang lediglich in idyllisch-romantischer2 Lage auf der Höhe eines Kamms, mit dem sich das nächste Mittelgebirge ankündigte, ein Flüsschen: einer der dreckigsten Flüsse der Republik. Hierher kam niemals ein Prominenter, um durch den Sucher seiner versteckten Kamera irgendwelche debilen Streiche zum Zweck der Volksbelustigung abzudrehen. Seine Eltern, die in der Abenddämmerung der 1950er-Jahre geheiratet hatten, bauten um 1960 ein Zweifamilienhaus, sozialer Wohnungsbau, mit den Mitteln, die damals mühselig erarbeitet wurden. Eine Doppelhaushälfte, in denen die Menschen ihre Zeit in direkter Verbindung mit den Nachbarn verbrachten und die jetzt dauerhaft die geografische Mitte einer damals neu entstehenden Verkehrsader bildet. Der Weg war damals wirklich steinig, nicht nur der Bau des Hauses. Fußgänger betraten noch keinen Asphalt, keine wassergebundene Decke, sondern vielmehr Schotter, der nur notdürftig festgestampft war.

Seine frühesten Erinnerungen mischten dieses Bild mit den mittlerweile zu gilben beginnenden Dias, auf denen rotwangige Onkels, die zumeist Willi hießen, in dunklen Anzügen mit ihren großen Händen Biergläser fest umschlossen hielten, als trauten sie den neuen Mauern nicht. Oder vielleicht war es nur der Eindruck, dass es sich dabei um zu Glas verkümmerte Reste der alltäglich umklammerten Spaten handeln würde. Denn Gartenpflege und Eigenheim gehörten nun mal eng zusammen, und das erste Ereignis zu den Festtagen im Hause war der obligatorische Gang der Männer, teils mit Tulpe, oder wie der Großvater, gleich mit der Halbliterflasche Pils in der Hand, durch den Streifen Grün hinter dem Haus, der später durch Pacht und Vorkaufsrecht um eine großzügige Parzelle für Gemüsebeete erweitert wurde. Gegenüber die Grundschule aus Backstein, ein unheimliches, dunkles Haus, wie er damals fühlte. Bald wich der Schotter einer glücklicheren Decke aus grobem Asphalt, der ihm aber das Rollschuhlaufen nicht gerade erleichterte. Die neue Schule im Norden der Gemeinde, die ihm die erste Bildung bringen sollte, war jetzt aus Waschbeton, besaß flache Dächer und eine große Turnhalle, von der er als Kind hinabgesprungen sein wollte, eine der kleinen Lügengeschichten, die er manchmal erzählte und mittlerweile selbst glaubt. Vielleicht stimmt es sogar. Wer will das wissen? Zu den damaligen Freunden hat er seit damals keinen Kontakt mehr. Aber schaut er heute in seiner Erinnerung empor, erscheint es ihm doch zu kühn, und er einigt sich auf das Fahrradhäuschen, aber dennoch, waren sie nicht doch damals auf die Schule geklettert? Da gab es ein vergittertes Fenster. Hatte das nicht als Aufstiegsmöglichkeit herhalten müssen? Vorbei, keine konkrete Erinnerung mehr. Belassen wir’s also dabei. Dann donnerten Lkw, Zulieferer eines großen Kaufhauszentrallagers, durch die Straße, bis schließlich mit erwachendem Bewusstsein, aber das war schon sehr viel später, eine Verkehrsberuhigung der mittlerweile zugebauten Straße Kinderfreundlichkeit angedeihen ließ. Manches Mal wird ihm mehr als deutlich, dass er sich keine Antwort auf die Frage «Hattest Du eine glückliche Kindheit?» zu geben vermag. Karsch hat seinen Stiefel durchgezogen. Wer will es ihm verdenken.
Dieser Erinnerung ähnelte die seltsame Stimmung an jenem Morgen im Oktober 1992, von dem er wusste, dass er nicht lang währen würde, bis ihn körperliche Arbeit wieder zurück in die Welt brächte. Denn er war verabredet. Im Elternhaus der Freundin eines Freundes, deren Mutter, enttäuscht war und verarscht wurde von einem fremdgehenden Steuerberater-Ehemann, der mit den Präferenzen seiner Partnerwahl Probleme hatte und sich, ganz den Fiesling gebend, in alter Chauvinistentradition gegen seine eigene Familie, sein eigenes Fleisch und Blut, wie es so brutalistisch heißt, verhielt, als sei es die Schuld von Frau oder Kindern, dass die Gesellschaft nicht mit seiner Neigung einverstanden – in Trennung lebte und welcher das Haus zum Teil als Büro in Anspruch nehmen wollte, und sie ihn, den damals noch Kräftigen, gebeten hatte, bei den entrümpelnden Vorarbeiten zu helfen, was er gern zusagte, da er immer hilfsbereit war. Das sollte ungefähr fünf Kilometer Luftlinie entfernt in einem anderen Ortsteil passieren, und da um diese vernieselte, vorgottesdienstliche Zeit noch kein Mensch ins Auto gestiegen war, musste er den ganzen Weg in seinen, für derartige Unternehmen nicht geeigneten Stiefeln, zurücklegen, eine Strecke, die ihn mit Blasen an den Hacken und zudem noch mit totaler Müdigkeit belohnte.

Die vormals integrierten Biermengen hielten ihn allerdings relativ warm. Seine Begleitung von der Party hingegen wollte nur noch nach Haus gehen und hatte für seine Anmache kaum eine humorvolle Erwiderung parat. Es schien ihm, als werde er ihr nun lästig, daher bezwang er sein Drang, sich ihr aufzudrängen. Sie wohnte nur unwesentlich entfernt von dem Elternhaus ihrer Freundin, die zu ihrem Geburtstag das Fest gegeben hatte. Da sie studierte, nahm er an, dass sie in dem Ort nur zu Besuch war. Dass das Leben nach diesem Tag peu à peu und für mindestens drei dokumentierte Jahre die Hölle auf Erden für ihn werden würde, hätte er sich nicht auszudenken vermocht. Er war in die Party geplatzt. Nur mit äußerstem Widerwillen hatte er seinen Freunden, die ihn beinahe krampfhaft überreden mussten mitzugehen, nachgegeben. Sie waren zu viert in Bochum ausgegangen. Ihm hatte das ausnahmsweise einmal gereicht, und er wollte danach nur noch schlafen. Zudem war keine Einladung an sie ausgesprochen worden, oder wenn doch, dann nur für einen von ihnen, und er meinte – seinen Vorurteilen sei Dank – überdies, ganz genau zu wissen, welche Menschen er zu erwarten hatte, und diese vorgestellte Zusammensetzung mochte er überhaupt nicht. Aber er ließ sich, nach einer dieser kurzen doch unangenehm lang wirkenden Pseudo-Diskussionen, dennoch mitnehmen. Und so beschloss er, sich, wieder einmal, zu betrinken. Mit den Möglichkeiten einer Gelehrtentochter hatte die Gastgeberin das Haus ihrer Eltern hergerichtet, Theken installiert, Buffets aufgebaut, und sie eilte geschäftig zwischen den Leuten hin und her. Ihre Partys, das musste er zugeben, waren hervorragend organisiert, selten langweilig und immer reichhaltig mit allem fürs leibliche Wohl Notwendige ausgestattet, sodass kein Gefühl des Entbehrenmüssens aufkommen konnte. Bis auf Zigaretten vielleicht, was er später bedauerte, da irgendwann seine Vorräte erschöpft waren und er sich mit seiner zukünftigen Höllenfürstin auf die Suche nach einem Automaten begeben musste; denn die Gewohnheiten der Fünfziger, als Tabakwaren noch preiswert waren und die Gastgeber auch das Rauchen ihrer Gäste wohlwollend sponserten – eine gute, aggressionslose Zeit vielleicht – waren vorbei. Sie betraten das Haus und standen direkt vor einer Theke. Das übliche Spiel begann, keiner trinkt schneller als Karsch. Da waren die Freunde, die nicht seine Freunde waren; der gesamte Klüngel – und dies war ihm eine besondere Erschwernis vor der Abfahrt dorthin – seiner Ex-Freundin war dort versammelt, denn die Welt ist bekanntlich klein.

In einer Situation der Ungewissheit bezüglich seiner Lebensvorstellungen, in einer Zeit vor der Reife hatte sie ihn angetroffen. Er hatte sie an einem Treppenaufgang stehen sehen und sich prompt, er war bereits ziemlich betrunken, zu ihr begeben und ein Gespräch begonnen. Oder, nein, er stand neben ihr an dieser provisorischen Theke und sie hatte sich vorgedrängt, was er mit charmanter Geste und einem Bonmot quittierte. Daraufhin revanchierte sie sich mit einem Bier zusätzlich, das er dann in die Hand gedrückt bekam. Sie verbrachten wohl etliche Stunden damit, auf einer Treppe zu sitzen und sich zu unterhalten. Man hätte meinen können, dass sich diese beiden dort, vertieft in sich und abgeschlossen von dem bierseligen Außen, gefunden hatten, auf Anhieb. Eigentlich war er zu diesem Zeitpunkt in eine andere verliebt. Aber jene Geschichte hatte ihre eigenen Probleme: Sie steckte noch in einer Beziehung, aus der sie sich nicht befreien wollte. Heute ist sie mit dem Damaligen verheiratet, sie haben ein Kind, geregelte Arbeit, und alles ist prima, nur das Kind ist immer krank. Damals hatte sie ihn vor sich gewarnt, er sei so lieb, sie so schrecklich und wenn sie zusammenkämen, dann nur weil er so lieb sei. Ach Karsch, du bist schon ein Schlawiner! Das war natürlich keine Basis, daher vergaß er das Ganze auch recht schnell. Und in einem zukünftigen Heute ist dies alles nicht mehr sichtbar und noch weniger nachvollziehbar. Letztlich prägen solche Jahre nur den Unterbau, wenn man sich den Charakter, die Persönlichkeit als Gebäude vorstellt. Wer geht schon gern unnützerweise in den Keller und fängt damit an, das Fundament zu untergraben? Es bleibt im Diffusen einer Vorstellungswelt, und auf ein Morgen hat es als ebensolche natürlich Einfluss. Aber da die Welt voller Ereignisse ist, werden die Details von einst zu Brei vergessen.

Also zurück ins sich anbahnende Purgatorium. Alles Weitere verlief nach üblichem Plan. An der Haustür noch ein wenig flirtendes Geplänkel und Adressenaustausch, den kleinen blauen Zettel bewahrte er lange Zeit auf. Sie hatte sich noch seine Uhr geliehen, denn diese Messgeräte sammelte sie. Dann so etwas wie eine halbzärtliche Verabschiedung. Und loswandern. Er schlief kurz und schuftete heftig. Das war der Sonntag. Danach veränderte sich erst einmal nichts. [Fortsetzung folgt vielleicht]

  1. So fühlt es sich meistens an: Die Nacht durchzecht, der Alkohol schwindet, man raucht eine Zigarette nach der anderen, oder hat keine mehr, so wie in diesem Fall. Und schon ist man im anderen Zustand. Schwebend, unwirklich, und es wird einem dann, spätestens in ein paar Stunden so übel, dass man sich wünscht, alles wäre anders gekommen. Aber in diesem Moment hier ist es noch das allgemein erhabene Erheben des Rauschs, das trägt. ↩︎
  2. Hätte mir jemand einmal prophezeit, ich werde «romantisch» ohne ironisierenden Kontext schreiben… ↩︎

Soundtrack: Rain Tree Crow, CDV 2659, Virgin 261 380, 1991