Also soweit hatte er sich wieder im Griff. Fritz schaute ihn an und dachte sich seinen Teil. Kroatien ist für manch‘ Fremden verwirrend. Nicht jedes Wesen kommt mit der Kollision der hiesigen mit der eigenen Realität klar. Dafür gibt es gute Gründe. Fritz hatte sich Jahrzehnte Zeit genommen, um an den Punkt zu gelangen, an dem er mehrere Realitäten in unterschiedlichen Geographien ertragen konnte. In gewisser Weise hatte er das Talent zum Reisenden, entschied sich allerdings für Kroatien, nachdem mit Wien und Österreich gebrochen hatte. So weit war Kampmann noch nicht, aber auch er hatte diese innere Befähigung zum Unterwegssein, ob es ihm gefiel oder nicht. Zuhören war nun die Devise. Niemand konnte sich in dieser Situation leisten, unaufmerksam zu sein. Und dem Schönen der Landschaft zu erliegen, bedeutete gegebenenfalls den Tod der Menschheit zu riskieren, denn unter dem machen wir’s nicht. Die Mission, die vor ihnen lag, war also zu wichtig, um dem Äußerlichen anheimfallen zu dürfen.
Die Zeitnazis hatten sich überlegt, zum alljährlichen Jazzfest auf der Insel Koločep eine Geheimwaffe in Stellung zu bringen. Egon Murks und Bröno Selfmachteger-Spretz hatten schon lange vor, mit einem Coup die innere Macht über alle und jeden zu übernehmen – und vor allem: über alle Zeiten hinweg vom Geschehenen zum Möglichen. Selbst wenn sie Erwin die Frage der Fragen nur unbefriedigend beantworten konnten: «Egon, Böno, wat macht ihr denn, wenn ihr die totale Macht habt?» Worauf Bröno dann immer nur unbefriedigend kundtat: «Ja dann haben wir sie erstmal.» Derartige Zeugnisse des augenscheinlich größenwahnsinnigen Schwachsinns bei kleinstmöglichem Laubenpiepermindsets waren der Ausgangs- und Endpunkt der Okkupationsbestrebungen. Bei Murks lagen die Dinge klar auf der Hand: Er wollte einfach nur mehr Geld. Er bildete sich darauf wer weiß was ein. Und da er genau wusste, dass es Leute gab, die das einen feuchten Kehricht interessierte, was er aus Mangel an Verstand oder Weisheit oder Moral sich wünschte, brauchte er Bröno, damit alle in Ketten gelegt werden würden, die eben nicht darauf aus waren, an dieser fragwürdigen Lebensweise zu partizipieren. Und das waren viele. Bröno und seine Schergen wiederum suhlten sich in flachen Machtseen. Dass es Soziopathen tatsächlich gab, war Kampmann immer ein Rätsel gewesen. Er glaubte schließlich ans Gute, auch im Menschen. Das speiste sich aus dem Verständnis der Aufklärung und der Lektüre einschlägiger Friedenstexte. Dass es pathologische Existenzen gab, die allen Böses wollten, lag nicht in seinem Vorstellungsraum, obwohl die unterworfene Gesellschaft schließlich seit langer, langer Zeit unter den Ketten der Diktatur ächzte. Es hing für ihn viel davon ab, dass er sich selbst in seiner Umgebung beobachtete und beobachten konnte. Er bekam die Gelegenheit dazu, die Bröno wahrscheinlich nie hatte. Als Kind lernte er lesen. Das war zu dieser Zeit keine Selbstverständlichkeit mehr. Die herrschende Regierung hatte Schulen abgeschafft. Es hieß, wenn man nur von den Alten lernte, wäre es gut genug. Als der Große Umbruch passierte, wurden die wichtigsten Bücher aller Zeiten als überflüssig bezeichnet. Offenkundig begannen die Zeitnazis mit den religiösen Schriften. Nach und nach verschwanden Tora, Bibel, Koran oder die Weisheiten Buddhas aus den Regalen der Buchhandlungen. Dann nahm man sie mit, wenn man in der Kirche, Synagoge, Moschee oder einem Tempel war. Mit den Buchhandlungen, den Büchereien und Bibliotheken ging es weiter. Sogenannte Wirtschaftsberater erklärten im Auftrag der neuen Regierung den Verkauf von gedruckten und elektronischen Büchern als überflüssig. Zu wenig Return on Invest. Ferdinand Dulle, einer von Kampmanns langjährigen Freunden, hatte ihn immer mit Geistern auf Papier zwischen zwei Deckeln versorgt. Ferdinand erlebte es am eigenen Leib, wie die Schergen zu ihm kamen, um ihn davon zu überzeugen, dass man mit Belletristik kein Geld verdienen sollte, und so begann er zum Glück sehr früh damit, in den Katakomben von Solingen unter seinem Eigenheim ein riesiges Lager zu errichten, das nur noch denen in Amazonien gleichkam. Jedes Mal wenn er in den Keller ging und sich vor die große stählerne Wand stellte, die hinter einem Vorhang aus Sackleinen verborgen war, schaute er an eine kleine, rechteckige Stelle, legte die linke Hand, die stets von Herzen kam, auf eine andere und murmelte: «Der Wille wird als unabhängig von empirischen Bedingungen, mithin, als reiner Wille, durch die bloße Form des Gesetzes als bestimmt gedacht, und dieser Bestimmungsgrund als die oberste Bedingung aller Maximen angesehen.» Erst dann öffnete sich mit einem unheimlichen Zischen die Wand, und Dulle trat ins Paradies ein. Vollklimatisiert, beste Luftfeuchtigkeit, aber energetisch nachhaltig und neutral. Keine CO2-Emission, kein Laut. Schlicht ein Meisterwerk, das er mit seinem Netzwerk an bibliophilen Untergrundarbeitern errichtet hatte, um es als, wie er es nannte, «Arche des Wissens» so zu pflegen, dass die Schätze darin für alle nachfolgenden Generationen erhalten blieben. Schließlich konnte kein Auto ewig fahren. Und nach diesem Zeitnazi-Mist musste etwas Besseres kommen.
An der Oberfläche nährten sich Papierfresser nur noch von Pixi-Büchern. Was für eine Schande. Brönos Leute hatten es geschafft, das Land der Dichter und Denker in reine Konsumenten zu verwandeln. Nicht alle, klar, es gab die RDS und das große Netzwerk freundschaftlicher Verflechtungen. Doch der größte Nachteil war ja, dass dauernd der Schein trog. Man konnte nicht offen seine Meinung sagen, ohne dass gleich wieder ein Shitstorm losbrach. Das war nämlich Volkes Stimme. Wer mit dem Shitstorm belegt worden war, hatte es nicht leicht. Und so konnte es passieren, dass freundliche Nachbarn eine Geschichte über das Ziel dieser Attacken gegen die Menschlichkeit erfanden und sie in sogenannten Nachbarschaftsbüchern veröffentlichten. Auf den 24 Seiten auf zehn mal zehn Zentimetern las man das Übelste in einfachen Sätzen. «Martin Sedlrock ging eines Tages nicht zur Arbeit. Er spuckte auf den Gehweg. Sein Müßiggang löste einen Polizeieinsatz aus. Die Polizei hielt Martin auf. Martin musste in den Wagen einsteigen. Sedlrock wurde auf einen Schrottplatz gefahren. Der Polizist nahm die Pistole. Der tolle Dienstmann schoss. Martin Sedlrock starb unwürdig. Wir Nachbarn haben ihn vergessen.» Manchmal reichten nur Kleinigkeiten, um die Maschine in Gang zu setzen. Das erinnerte Kampmann ans Dritte Reich. Aber die offen-verdeckte, paradoxe doch simple Feindseligkeit von damals, die sich wie ein Teppich über die gesamte Gesellschaft gelegt hatte und eine Stimmung der sozialen Kälte und des Misstrauens zur Folge hatte und letzten Endes auch nach Erlösung durch den «Totalen Krieg» verlangte, war nicht das, was in unserer Zeit die Gesellschaft als Seuche befallen hatte. So einfach machte es der NNS, der Neue Nationalsozialismus uns es nicht. Das Leben war nun schon seit Jahren fast ununterscheidbar ähnlich dem der Zweiten Bundesrepublik, so wie sie nach 1989 existierte. Es war ja keineswegs so, dass man vor lauter schwarzen Uniformen und Überwachungsmechanismen nicht mehr atmen konnte. Doch, das war möglich. Und nur die wenigsten Mitbürgerinnen und Mitbürger wurden real drangsaliert. Aber es hatten sich eben auch radikale Änderungen unter der Motorhaube erbeben. Europa war beispielsweise keine Gemeinschaft mehr. Man teilte ein paar Waren und kümmerte sich ansonsten in jedem Land um seinen eigenen Kram. Urlauber wurden geduldet, Kommunikation zumindest in Deutschland war nicht erwünscht. Seit die USA implodiert waren, hatte es einen nicht abreißenden Strom von Flüchtenden nach Europa und Indien gegeben. Nordamerika war der Verwüstung anheimgefallen, und trotz der Herrschaft der Zeitnazis florierte die Naturwissenschaft. Das machte die Bevölkerung träge und fett. Denn weder an Deutschland noch an Europa kam die Welt vorbei. China hatte den ersten Platz längst nicht mehr inne, und seitdem Indien und Deutschland in einen direkten Austausch miteinander und auch in gemeinsame Regierungsverantwortung in der UNO gekommen waren, erklärte sich der osmotische Druck, der dafür sorgte, dass beide Länder sich jedes Jahr aufs Neue den ersten Platz auf der Liste der reichsten und agilsten Staaten teilte, weil jeder Mensch dorthin wollte, wo schwarze Milch Arbeit und Wohlstand verhießen. Die ganze Augenwischerei darüber und die versteckte Ausbeutung der Bevölkerung durch Mikrounterdrückung täuschte Suchende darüber hinweg, dass Wohlstand nur der Smoking einer Untergangsgestalt des Kapital verbrennenden Molochs einer durch und durch korrupten und wenig nachhaltigen Konsumgesellschaft war, die von oben herab einigen wenigen das beste Leben bescherte und Zugangn zu den geheimen Resorts sowie Gated Communities ab einer gewissen Reichtumsschwelle offerierte. Und das alles, während alles andere weiterlief. Man redete natürlich über Nachhaltigkeit, Chancengleichheit, Umweltschutz und solche Begriffe, aber sie waren komplett inhaltsleer geworden, denn keine offene Zivilgesellschaft kontrollierte diesen Diskurs, keine Programme reflektierten in Form von Studien den Gehalt der Postulate einer immer wieder gewählten Regierung. Wo das hinzuführen drohte, ließ sich an Russland ablesen. Aber davon in ein anderes Mal.
So erklärt sich übrigens der Begriff der Diktatur im 21. Jahrhundert. Wir haben das alles kommen sehen und über uns ergehen lassen. Also sind wir selbst schuld und tragen nun geduldig die Folgen des unmündigen Wandels. Auf diese Weise beruhigten sich die meisten, die etwas sahen, viele aber sahen erst gar nicht, was passiert war, sie hatten fürs Übel der Welt ihre Pixi-Bücher. Dort ließen sie ab, was sie nervte, und gaben sich damit zufrieden, dass ihre Stimme automatisiert erfasst, ausgewertet und scheinbar systemstabilisierend dazu führte, dass Bröno und seine Truppe machen konnten, was sie wollten. Doch der Schein ist so eine Sache. Liegt er den Dingen auf, ist er vielleicht weniger schädlich, als wenn er inhärent ist. Wir erlauben uns keine Einschätzung. Nicht jetzt schon. Es liegen noch Meilen vor uns. Gehen wir weiter.
«Wir sollten also überlegen, was ein wirksames Mittel ist, um mehr Bewusstsein zu erzeugen», sinnierte Kampmann. Doch Fritz Firlefanz ließ das nicht zu. «Kampmann, Ihr müsst zuschlagen. Ich habe Dir doch alles erklärt. Wenn Ihr Bröno nicht festsetzt, geht es hier immer so weiter. Die Kroaten haben ein verdammt seismografisches Empfinden. Sie spüren, dass Europa nur mehr als Idee existiert. Wenn es nicht global zum Ausbruch eines finalen Krieges kommen soll, ist jetzt Zeit zu handeln», resümierte der Wahllandwirt und tunkte das Weißbrot ins frische Öl. Der Geruch verbreitete sich so wohltuend hier zwischen den Bäumen. Kampmann war geradezu benebelt. Denn diese multisensorische Schönheit zog ihn in seinen Bann, und unser Olivenheini ärgerte sich über die Wahl des Schauplatzes. Er dachte bei sich, dass mit dem Deutschen nichts anzufangen sei. Doch dann rieb der sich mit dem Zeigefinger unter der Nase über die Oberlippe und kam zu nachstehender Schlussfolgerung: «Es gibt faktisch keine Demokratie mehr. Die Mitmenschen sind eingelullt von scheinbarem Wohlstand auf Kosten anderer auf diesem Planeten. Wir gelten nun als Einwanderungsgebiet, und der moralische Dünkel ist monumental. Der Leumund Deutschlands wird immer größer und besser. Alle sind – scheinbar – zufrieden. Aber dennoch haben wir das wichtigste Gut verhökert: unsere Freiheit. Wie kommen wir dann gegen die Pixis und Shitsstormers an? Egal, was passiert, wir bleiben im Untergrund. Ich muss zurück nach Trsteno und darauf hoffen, dass die RDS dort noch tagt.» Fritz schlug sich vor den Kopf. «Nein, natürlich nicht. Du musst zum Jazzfetsival auf Koločep. Denn dort spielt die Musik, die nur Ihr von der RDS versteht und hören könnt. Macht Bröno platt. Nehmt ihn in Gewahrsam, aber er darf niemals die Maschine in Gang setzen. Das will er dort. Das muss unterbunden werden.» [Fortsetzung folgt vielleicht]
Soundtrack: Richard Strauss, Eine Alpensinfonie, Till Eulenspiegel, The Cleveland Orchestra, Vladimir Ashkenazy, Decca 425 112-2 (LC0253), 1989