«Es ist wie mit allem, denn es hat ein Vorne und ein Hinten, und daher hat es mindestens zwei Seiten», bramabarsierte Sanct John. Er stand in seinem weißen Zwirn mit schlankem Revers, weißer Weste, weißem Hemd und weißer Krawatte im Saal und fächelte sich dabei mit seinem ebenso weißen Borsalino mit der weißen Krempe ein wenig Luft zu. Kein Staubkörnchen färbte etwas an ihm auch nur im Mümeterbereich ein. Das war sein Ausdruck für den inneren Frieden, den er der Welt wünschte. Seine ätherische Lichtgestalt mit der papyrusgleichen Haut langweilte alle. Aber man hatte den Meister zur Kenntnis zu nehmen. Auch hier in Trsteno, wo die RDS sich versammelte. Per PILZ ging die Nachricht um die Welt. Nun waren sie alle beieinander, standen in dem verzauberten Ort unterhalb der D 8 im Konferenzraum des Herrenhauses im Arboretum. Sanct John war sicher der exaltierteste von allen, mochte sich die Crocrew, mochten sich die Hairy Armpits noch so sehr anstrengen. Sanct John war, wie soll man es ausdrücken? «Speziell». Zusammen mit einem Haufen Lover im Alter von 19 bis 24 hatte es ihn mit der Yellow Submarine in der Nachbarbucht angetrieben. Die Jungs bugsierten ihn mit einer weißen Sänfte die Klippen hoch und hatten ihn dann schlicht hier hellsteinernen Gebäude abgeliefert. Jetzt tummelten sich die Gespielen in der Dorfbucht und scheuchten sich und die jungen Damen und Burschen aus Trsteno mit heftigen Wasserspielen in die sanften Wellen eines viel zu heißen Sommertags.
Wozu war Kroatien noch einmal gut? Richtig. Sollte sich doch der alte Narr mit diesen nervigen Weltverbesserern abgeben. Die Jeunesse dorée hingegen frönte ihren Luxusmarken und Medien, postete kleine Reels was das Zeug hielt, und bräunte sich. Deren Liebeserklärung ans unbewusste Dasein in Sonnencreme, Strandbier und Schampus war rührend. Aber das würde bald wieder zuende sein. Der Allzeitherbst naht. Noch ist Schonzeit und ein wenig Urlaub, aber wenn der Alte, so dachten sie, wieder ablegen will, heißt es: Uniform anlegen und Kapitän Nemo spielen. Der Winter wird unter Wasser verbracht. Jules, ja, Ironie der Wirklichkeit, den gab es wirklich in der Crew, war der Verantwortliche für das Führen des offiziellen Logbuchs. Jetzt plante er seine nächsten Posts im Kopf und mit von Sonne und Heineken gedämpfter Kraft voraus und fügte schon mal die entsprechenden SEO-Infos dazu. Damit würde Sanct John sicher als der Retter der Welt dastehen. Das clickt, und Clickis machen Kohli. Die Dollars müssen schließlich fließen, sonst hat das U-Boot kein Wasser unterm Kiel. Wir verlassen jedoch dieses Idyll, das in einem französischen Unterhaltungsliebesfarbfilm der späten 1950er Jahre nicht besser fotografiert worden wäre: all’ diese überzeichneten Farben! Azur hat hier eine andere Bedeutung als in den Hamburger Werbeschmieden, da könnt Ihr sicher sein. Und wir steigen die steile, mehrfach sich windende Treppe hinan, gehen an dem Trümmerhaufen eines vollständig zerstörten alten Hauses vorbei und genießen den Schatten unter dem Bewuchs aus den Gärten der anliegenden Wohn- und Lebensstätten. Und mit dem Griff in den Feigenbaum kommt eine Süße ins Leben, wie man sie vielleicht nirgends sonst geschenkt bekommt. Man pfeife doch bitte in dieser Jahreszeit auf die gebratenen Tauben. Das ist zu schwere Kost.
Büttner räusperte sich und gab damit Sanct John recht. «Ich gehe mal eben nach Kampmann schauen. Der müsste eigentlich längst wieder da sein. Vielleicht ist er doch wieder von Ljubica abgefangen worden und quatscht mit ihr dummes Zeug.» Damit überließ er den bunten RDS-Haufen sich selbst. In einer Ecke des kargen Raums, der, leicht abgedunkelt und wohltemperiert eine für diese Breiten entlastende, schweißvermeidende Atmosphäre anbot, stand Dahintver Honsko, parlierend mit Q. und Holger Karsch: «Ich sage Dir, die Demokratien schwinden, wir müssen langsam mal über einen Plan c nachdenken. Das geht doch nicht, dass …», «Ja, Du hast ja Recht, aber ich sage Dir, wir können nicht hart eingreifen, weil wir dann genauso niederträchtig sind wie Bröno und seine Schergen.» Ja, Bröno, der den Zwietracht sät. Immer ist er präsent. Der ewige Querulant und Großkotz, der viele Fähigkeiten besaß, keine jedoch für das Wohl anderer einsetzte. Margret stieß zum Duett: «Vor zwei Jahren, vor meinem Desaster, hätte ich noch kurzen Prozess gemacht, aber ich weiß nicht, wie der Typ das immer schafft. Er taucht ja immer wieder auf.»
Nach einer Weile kollektiven Tiefatmens zu viert: «Und meine Machete hätte ihn sicher auch nicht umgebracht.» Sie erinnerte sich an Aktionen, bei denen Selfmachteger-Spretz eigentlich hätte sterben müssen. Doch immer wieder belebte ihn etwas aufs Neue, und er stiftete erneut Politiker dazu an, Gesetzgebungsvorhaben auf den Weg zu bringen, die mit den Vorstellungen einer demokratisch legitimierten Handlungsweise einer Best Governance nun so gar nicht in Einklang zu bringen ist. Er hatte in Polen die Entmachtung des Obersten Gerichtshofs durchgesetzt. Er war der Kumpel des Herrschers in Ungarn, wo er Unfrieden stiftete und mit Versprechungen des Reichtums und unendlichen Möglichkeiten den rechtlich sauber gewählten Vertreter des Volkes zu einer Position verhalf, die ihm ewige Wiederwahl garantierte. Er verstärkte in Afghanistan den Wahn der Taliban und zündelte mit den Warlords. Und natürlich war er der niemals gesehene Gast auf allen Parties von Wladimir dem Dummen. Ganz gleich wohin man schaute: Die Bolsonaros dieser Welt waren sein Verdienst. Nur er selbst bekam es zum Glück nie in den Griff.
«Kommt mal auf den Teppich», warf der Fliegende Holländer ein. «Habt ihr seinen Auftritt erlebt? Er hat es vergeigt. Vor Zehntausenden.» «Das ist es ja gerade», seufzte Margret. «Er schafft es, dass man seinen Ideen überall glaubt. Er sorgt dafür, dass die Grenzen des Sagbaren immer weiter in Richtung Unmenschlichkeit verschoben werden. Er hat Egon Murks in der Tasche. Auch all die anderen Vertreter des Überwachungskapitalismus. Ausnahmen bestätigen die Regel. Seine Merges & Aquisitions konzentrieren das Kapital und kontrollieren die Öffentlichkeit.» Margret hatte natürlich recht, und auch Sanct John, der sich auf leisen Sohlen hinter Margret in Stellung gebracht hatte, raunte: «Wehret den Anfängen.» Bröno war der größte Influencer aller Zeiten, so lange er nicht selbst auf die Bühne stieg. Sicher war er der Rhetoriker schlechthin, aber immer vergällte irgendeine Kleinigkeit den Auftritt. Das Ereignis, an das Margret anspielte, ging in die Hose, weil der tödliche Rhetor vergessen hatte, auszutreten. Und der Druck auf ihn hatte zur Folge, dass ihn das Wort verließ. Kann passieren, sollte nicht. Zum Glück für die RDS und auch für die Menschheit.
Mittlerweile war Büttner wieder zurück im Park und erst einmal außer Atem. Er überstieg verbotenerweise das kleine Mäuerchen um den Springbrunnen, schritt ins Nass, kühlte die Waden und hielt seinen Kopf unter den weiten, parabolischen Wasserstrahl des Einhornkopfes, um sein Gemüt, das in große Unruhe geraten war, wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Dass er dabei den Schwarm Goldfische vergrätzte, nahm er billigend in Kauf. Danach schritt er weiter mit platschendem Schritt. Im Herrenhaus angelangt, die Socken waren wieder getrocknet, verlieh er seinen Sorgen Ausdruck: «Wir haben Kampmann verloren. Er sollte eigentlich längst wieder da sein.» Margret wendete sich von der Versammlung ab und atmete lautstark vor die zur Faust geballte linke Hand und konnte nur mit Mühe einen Schluchzer der Verzweiflung auf Stumm stellen. Sie würde umgehend ihre Leute zusammentrommeln, um ihn zu suchen. Die Wut kochte. Gegen die Vergangenheit war selbst Bröno machtlos. Was, wenn das Monstrum Kampmann einkassiert hat? Was, wenn der skrupellose Knecht mit im Wahn seiner faschistischen Gesinnung ihren Allzeitgeliebten die Klippen hinabgestürzt hat? Was, wenn er gerade in diesem Augenblick gefoltert werden würde? Es hielt sie nichts mehr, kein klarer Gedanke war möglich, doch dann sprach Büttner: «Kampmann hin oder her. Der macht seinen Weg. Und ich weiß genau, dass Margret gleich nach ihm suchen wird. Der kommt in Sicherheit. Wir müssen nun jedoch generell eine Lösung für das Problem Bröno Selfmachteger-Spretz finden. Es kann mit dem Kosmos, der Welt und der Zeit so nicht weiter gehen. Daher schlage ich Folgendes vor: Wir müssen Selfmachteger-Spretz in unsere Hände bekommen. Selbst wenn er übermenschliche Kräfte haben sollte. Dann sehen wir weiter.» Am Ende stimmten sie ohne Kampmann ab. [Fortsetzung folgt vielleicht]
Soundtrack: Ben Folds, So There, New West Records, NW5108, 11.09.2015