Kampmann fällt. Das ist nichts Neues. Man fährt ihn in einer Bahn einen Berg hinauf, und er verschwindet in irgendeinem Zeitfaden oder einer anderen Dimension. Man kann zwar nicht die Uhr danach stellen, doch purzelt er gewiss an einem nicht zu erwartenden Ort einen Abhang hinunter. Immer geht es so gerade eben noch gut. Über seine äußerlichen Blessuren denkt er selten nach. Was ihn anhält, ist die Antwort auf die Frage nach den Folgen: Wie lange macht er das noch mit? Verwunderlich ist, dass er eigentlich meistens in der Ebene läuft. Man hat ihm nie nahe gelegt, dass er sich von Hängen fern und vor Abgründen in Acht nehmen soll. Einmal unterwegs, kommt er selten an welchen vorbei, ohne sie mit den vermaledeiten Füßen zu touchieren, und schon setzt sich wieder das alte Programm in Gang: purzeln, Abhang, blaue Flecken, zerrissene Kleidung, Schürfwunden. Man möchte fast von Schicksal sprechen, obwohl: Es ist immer gut gegangen. Bislang. Jetzt sitzt er bei annähernd 40 Grad Celsius in einem japanischen Minitruck der Marke Oyamatsumi, Modell «Sprinter». Die Fenster herabgekurbelt, hat er den Stream bis zum Anschlag aufgedreht. Zum wievielten Male auch immer hört er seine nostalgische Playlist «Emotional Artifacts». Kurven. Wo ist nur seine MT-09? Was für ein Paradies auf der D 8 Richtung Dubrovnik! Und er hockt hier in diesem Allradsechsundertsechzigkubikzentimeterwunderdiesel, der anmutet wie ein Truck für Hobbits, und gibt das Metall gewordene Verkehrshindernis. Seine Fahrt währt nicht lang. Und da ist es schon wieder geschehen. Bei Sjekirica platzt ein Reifen. Oder hat ihn vielleicht jemand abgedrängt? Es gibt einen Knall, dann hört er die Musik nicht mehr. Er riecht soeben noch Urin und Staub, dann dreht sich wieder alles.
Auf den letzten Drücker hat er sich aus dem Wagen schwingen können. Keine Ahnung, wie? Tür links, Drehrichtung rechts Richtung Mittelmeer. Wie soll das gehen? Es, was immer es gewesen sein mag, hat ihn über diese Einbuchtung geworfen. Oder geschubst wie einen Eisstock. «Stay on your bike», hört er Brad Pitt von Ferne flüstern. Doch das war ein anderer Film. Die wenigen Meter über den Asphalt schlittert er bis an die Stelle, wo die Autos der Badegäste tagsüber, aber nicht jetzt, warum nur, parken und sie, die Badenden, offenbar defäzieren, wenn sie ihre Sommerfreuden hinter oder vor sich haben. Zerknüllte Taschentücher sieht er noch vor seinem inneren Bildergenerator, wenn auch erheblich verwischt. Und er will das alles gar nicht deuten. Es passiert aber doch und leider ganz von selbst. Aha, daher die Erinnerung. Der Gestank. Immerhin weiß ich, wo und woran ich bin. Denkt Kampmann im Schleifen, Schleudern oder Fliegen und landet enorm unsanft zwei bis drei Etagen tiefer im Grün. Das aber ist nicht freundlich, sondern stachelig, und es duftet nun wieder nach der kargen dalmatischen Fauna. Er sieht es nicht, doch Kampmann weiß das Meer und die Felsen und die Pinien unter sich. Wenigstens das. Weil er die Gegend sehr gut kennt, trotzdem ihn alles schmerzt, als er wieder halbwegs bei Bewusstsein ist, trotzdem die Sonne brennt und er durstig bis zum Trockentod ist, freut er sich nicht auf den Aufstieg. Der einzige kleine steile Weg führt ihn durch den Gestank. Weiter hinunter bis zum Meer zu wanken, wird nichts bringen. Dort gibt er beim Badevolk in der Bucht das falsche Bild ab. Denn vertreiben möchte er niemanden mit seinem Anblick. Er mutmaßt, dass er ziemlich abgerissen aussieht. Seine fleckige Cargo-Hose hängt an einem Bein in Fetzen und ist ansonsten recht löchrig geworden. Der recycelte Kunststoff hat sich auf Höhe des linken Oberschenkels – warum der linke? – in die Haut eingebrannt. Das T-Shirt ist gespickt mit Dornen. Die Doc Martens sind heil geblieben. Wenigstens etwas. Langsam erlischt die Lampe des Nebenfachphilosophen. Hauptsache die Doc Martens.
«So lange man sich das alles aus der Vertikalen eines herkömmlichen Homo Erectus anschauen kann», denkt Kampmann, «ist das alles schön zu betrachten. Man sollte der Welt eben nicht zu nahe kommen. Tuchfühlung schmerzt. Und Asphalt beißt.» Und damit verabschiedete sich erst einmal sein Bewusstsein für ein Weilchen. Als er aufwacht, liegt er immer noch irgendwo in diesem Dornenbett am Abhang zum Badeparadies. Es ist dämmrig. Mühsam kommt er auf die Beine und kraxelt geduckt durch die Sträucher, bis er soliden Stand und einen halbwegs freien Blick auf die Bucht unter ihm hat. Es ist still. Auf dem Wasser kräuselt sich der Wind und onduliert kaum sichtbar einen Hauch weißer Gischt hier und da. Ein wenig rauscht Reifenklang von oben herab. Also fahren noch Autos. Heute müsste Mittwoch sein. Moment mal. Er hatte bereits gestern die Bucht identifiziert. Die aber liegt nördlich von Trsteno in entgegengesetzter Richtung zu Dubrovnik. Seine Erinnerung kommt an und bedeutet ihm, dass er Getränke am Hafen kaufen wollte. Also war er in die Irre gefahren. Die Hitze setzte ihm zu. Und nun wieder das alte Spiel: Wäre er also gestern korrekt abgebogen, hätte er längst wieder in Trsteno sein können, um bei der RDS und mit den Verbündeten an der Verbesserung der Weltlage arbeiten zu können. Nun ist aber alles wieder einmal verdreht, und Kampmann nimmt Maß, schaut, ob sich seine wenigen Wertsachen noch in den mit Reißverschlüssen zugezippten Taschen befinden – das tun sie, zum Glück – und begibt sich im beinahe schon verdunsteten Wolfslicht des neuen Morgens aufwärts gen Straße. Er hat weder etwas zu essen noch zu trinken dabei. Es ist kaum kühler als tagsüber. Mühsam kriecht er, auf Vermeidung von Berührungen durch außenweltliche Hindernisse an seinen Läsionen bedacht, den Hang hinauf. Er kommt an die stinkende Haltebucht und bewegt sich immer noch müden Schritts in Richtung Brsečine, das nur gut anderthalb Kilometer entfernt liegen dürfte. Er mutmaßt einen Bäcker dort, bei dem es sicher einen starken schwarzen Kaffee gibt. Nun trottet er den Asphalt entlang. Einen Gehweg gibt es nicht, also muss er höllisch aufpassen, dass nicht wieder etwas passiert. Da sieht er nach der wunderschön geschwungenen Kehre, für deren Schräglagentauglichkeit er gerade beim besten Willen keinen Blick und Wertschätzung hat, nun das Dorf. Einen Fuß vor den anderen setzend, fühlt er sich mit einem Mal beschwingt und frei, erhöht die Schrittzahl und pfeift einen Blues von Howlin’ Wolf auf die Schürfwunde. Nebenbei klopft er sich den Staub vom Leib.
Aus dem Nichts fällt ihm ein, dass der Wagen nicht mehr an Ort und Stelle stand oder quer lag. Die Leitplanke schien nicht durchbrochen gewesen zu sein. Wenn das alles in kürzester Zeit wiederhergerichtet worden war, warum hat man ihn nicht gefunden? Besser: Warum hat man ihn nicht gesucht? Gefunden hat nur er etwas, nämlich seine Stetson-Kappe. Die lag im Dreck. Und Kleinlaster, die einen Crash verursachen, haben Fahrer. Autonom geht hier noch gar nichts. Mit diesen Gedanken kommt er ins Dorf, sieht den Bäcker, bestellt seinen Kaffee, wird ansatzweise schräg angeschaut. Die Dame fragt mitleidig, ob er etwas brauche. Kampmann verneint dankend: «Vorerst nicht, aber ich komme auf Ihr freundliches Angebot im Notfall sehr gern zurück.» Er setzt sich auf die Leitplanke und beobachtet den Verkehr. Na ja, den zu dieser Zeit erstaunlicherweise noch nicht vorhandenen: im besten Fall. Er fragt sich, ob heute Feiertag ist. Dann fällt sein Blick auf einen von diesen digitalen Geschwindigkeitsmessern, die in jedem Ort Europas an die Grenze des Fahrbaren erinnern und darauf hinweisen, wie und was sich in den vergangenen Zeiten an Mentalitätswandel getan hat. Der Wechsel der Zahlen ist meditativ.
Und schon ereilt ihn ein schlechtes Gewissen, welches er damit relativiert, dass man mit dem Oyamatsumi Sprinter gar nicht zu schnell fahren kann. Kampmann stiert und sinniert. Währenddessen laufen Nummernblöcke in Orange auf Schwarz über den rechteckigen Geschwindigkeitsmesser. 42, Pause, dann 87, 590, lange Pause dann 18 Pause, 51, 140. Noch längere Pause. 42, Pause, dann 87, 590, lange Pause dann 18 Pause, 51, 140. Noch längere Pause. 42, Pause, dann 87, 590, lange Pause dann 18 Pause, 51, 140. Noch längere Pause. 42, Pause, dann 87, 590, lange Pause dann 18 Pause, 51, 140. Noch längere Pause. 42, 87, 590… Immer diese Pausen. Wenn kein Auto durch die Ortschaft fährt, warum zeigt das Gerät etwas an? Was bedeutet 590? «Es fährt kein Auto, die Anzeige zeigt … Moment mal!» Kampmann erwacht endgültig. 42.87590 und 18.51140. «Na sowas?» [Fortsetzung folgt vielleicht]
Soundtrack: Richard Wagner, Tristan und Isolde, Siegfried Jerusalem (Tenor, Tristan), Matti Salminen (Bass, König Marke), Waltraud Meier (Mezzosopran, Isolde), Falk Struckmann (Bariton, Kurwenal), Johan Botha (Tenor, Melot), Marjana Lipovšek (Mezzosopran, Brangäne); Chor der Berliner Staatsoper, Berliner Philharmoniker, Gesamtleitung Daniel Barenboim, Warner Classics, 256467273-6, LC 04281, 1993/2011