Aber ja, aber nein

Ordnung und Irritation

Manchmal denke ich, je mehr ich weiß, desto mehr weiß ich nicht. In solchen Momenten bin ich dann irritiert. Mal mehr, mal weniger. Um mich zu sortieren, ich erwähnte es schon zu einer früheren Zeit, male ich mir das, was mich irritiert oder das, was mich durcheinander bringt, als Mindmap auf. Ich weiß mittlerweile, dass es ganz gut ist, wenn ich nicht alles mit mir in meinem Kopp alleine herumtrage. Also male ich Mindmaps.

Schon immer ist Ordnung in meinem Leben ein Thema. Ich soll Ordnung halten. Mein Umfeld spiegelt mein Seelenleben oder meine Gedankenwelt oder beides oder noch mehr, immer wieder. Sagte man mir. Je mehr ordentlicher das Eine, desto ordentlicher das Andere. Sagte man mir. Ordnung wurde und wird mir zumeist von außen herangetragen. Das ist dann dieses entweder- oder. Entweder so, oder so. Entweder Ordnung oder Unordnung. Außerhalb dieser binären Vorstellung existiert nichts. Und das Nichts, glaube mir, ist noch schlimmer. Sagte man mir. Diese Haltung wurde und wird mir von Menschen herangetragen, die nur entweder- oder denken können. Vielleicht können sie auch mehr oder anderes denken. Ich kann nicht in deren Köppe reinschauen. Vielleicht wollen sie nur, dass andere entweder- oder. Sie selbst aber nicht. Die Politik der Alternativlosigkeit beherrschte mich 16 Jahre. Oder schon immer?

Die Kinder kamen vor vielen Jahren aus der Schule nach Hause. Gegenteiltag. Sagten sie. Aber ja. Aber nein. Ganz schön anstrengend. Sich an so einem Tag durchzusetzen. Entweder-oder. Ja. Nein. Meine Ordnung war vorerst futsch. Was denn jetzt? Immer noch Gegenteiltag? Also nicht essen. Nicht reden. Nicht schreiben. Nicht lesen. Nicht herummäkeln. Nicht schreien. S. meinte, letztes Jahr hätte ich geschrien. Ich kann mich nicht erinnern.

Die Bilder zu gestalten hilft, sie lesen zu können. Den Bildraum ruhig aufgeräumt dem Betrachter darbieten. Es ist doch ganz einfach. Horizontal, vertikal, Bildgründe, Schärfe, statisch oder verwischt, links, rechts, oben, unten. Das sollte doch möglich sein. Das kann doch nicht so schwer sein. Junge! Gerne auch mal eine gekippte Perspektive. Warum nicht? Obwohl K. sagt, dass benötigt die Fotografie nicht. Was benötigt schon die Fotografie? Ich soll nicht gegen Regeln verstoßen. Sagt auch H. Sie liebt Ordnung, sagt sie. Fotografie ist eben ein Werkzeug. Lass mal die Kunst weg. Das Gekünstelte.

Die Bilder helfen mir, mich tief in die Welt zu verstricken. In die Wirklichkeit der Anderen. Die Bilder treiben mich vor sich her. Rauben mir die Luft durchzuatmen. Zur Besinnung zu kommen. Dagegen. Dafür. Jedes Bild will in Windeseile ein Ja. Ein Nein. Dann sage ich ja. Es ist aber Gegenteiltag. Also nein. Ich meine aber Ja. Muss aber Nein sagen.

Die Gesellschaft trägt die Bilder in sich und spuckt sie zugleich wieder aus. Nichts kann sie für sich behalten. Bei sich behalten. In sich behalten. Ich sehe förmlich, wie mich der Gesellschaftskörper anspuckt. Wie er an der Ecke steht und sich übergibt. In einem breiten, überschwänglichen Schwall der Emotionen. Bilderströme fluten in die Straßen, die Gassen, die Häuser, die Wohnzimmer. In den Hosentaschen suppen die Bilder aus den Taschentelefonen. Es ist schier unerträglich.

Die Bilder kommunizieren untereinander. Sie sind im Universum der technischen Bilder beheimatet. Über Medien kann ich mich mit diesem Universum verbinden und die Bilder konsumieren. Die liebe Algorithmus bestimmt für mich, was ich sehen möchte. Oft nach einer Ordnung, die ich nicht verstehe. Scherzhaft sage ich Gegenteiltag. Aber nein, das hätte ich jetzt lieber nicht gerne gesehen. Das tote Kind am Strand. In dem Fotokatalog von diesem Festival.

Ich habe überlegt, wie ich meinen Bildern eine eigene Ordnung geben kann. Ich unterscheide in a) strenge Ordnung (Bücher), b) assoziative Ordnung (Webblog), c) fremde Ordnung (Instagram) und d) Unordnung (Kellerarchiv).

Die Negative habe ich in Ordnern abgeheftet. Chronologisch. Die digitalen Bilder sind ebenfalls chronologisch in der Cloud. Sie besitzen einen Zeitstempel. Zeit ist ein Metadatum. Sie ist fixiert. Sie zerrinnt nicht mehr. Sie vergeht nicht. Sie bleibt stehen.

Meine Fotografien lassen sich wie folgt gruppieren:
a) Fotografien, die ich mit analogen Apparaten angefertigt habe, b) Fotografien, die ich mit einfachen Digitalkameras angefertigt habe, c) Fotografien, die ich mit einer kompakten Digitalkamera angefertigt habe, d) Fotografien, die ich mit der Leica Q2 Monochrom angefertigt habe, e) Fotografien, die ich mit dem iPhone angefertigt habe.

In der Ordnung der Fotografie tauchen zumeist andere Gruppierungen auf:
Strassenfotografie, Naturfotografie, Reisefotografie, Sportfotografie, Naturdokumentation, Dokumentation. Jetzt taucht noch die Kategorie KI auf. Es gibt Protagonisten, die finden, dass KI keine Fotografie ist. Wieso nicht? M. sagt, die Kunst versaut die Fotografie. Die Fotografie selbst ist ganz einfach. Aber sobald die Kunst ihre Finger dazwischen hat, wird es verrückt.

Das Schöne an meiner Ordnung ist, dass ich ihr meine Regeln gegeben habe. Durch Regeln entsteht Ordnung. Ich muss nur wissen, wie und wonach ich etwas aufhäufen will. Ich sortiere etwa die guten Fotos in den Ordner mit dem Namen „Gute Fotos“, die schlechten Fotos in den Ordner mit dem Namen „Schlechte Fotos“. Dann könnte ich noch uninteressante Fotos aufhäufen. Und Fotos, die mich langweilen. Oder die noch nicht interessant sind. Oder die mal interessant waren, es jetzt aber nicht mehr sind. Ich habe mal ein einfaches System entwickelt, Texte mit Symbolen zu versehen. Das System wurde mit jedem Tag komplizierter. Bald wusste ich nicht mehr, was welches Symbol in welchem Kontext zu bedeuten hatte. Jetzt habe ich mich auf einen einfachen, sehr reduzierten Zeichensatz zurückbesonnen.

Täglich verstoße ich gegen meine eigenen Regeln. Ich finde das ganz gut. Auch wenn H. sagt, dass sie Regeln liebt. Ich verstoße gegen Regeln, gegen meine Regeln. Allerdings auch gegen die Regeln anderer. Gerade in der Fotografie gibt es ganz viele Regeln. Ein Foto hat so zu sein, oder so. Dies und dass oder das sind verboten. Oder zeugen nicht von Könnerschaft. Ich weiß nicht, wer sich diesen ganzen Regelkram ausgedacht hat. Bestimmt wollte dieser jemand, diese Ordnungskraft, nur das Beste. Es ist ja auch ganz gut, wenn alle in eine Richtung fahren. Rechtsverkehr. Klassifikation des Straßenverkehrs nach der benutzten Fahrspur. Bei uns. Und bums, fährt ein Schotte zu Beginn der EM in Deutschland in den Gegenverkehr.

Ordnung wird durch Codes vermittelt. Und durch Regelwerke. Die zwölf Gebote. Das Grundgesetz. Handapparate. Gesetzeskommentare. Ansel Adams hat über das Negativ, das Positiv und die Kamera sein Verständnis von gelungener Fotografie niedergeschrieben. Das war meine dreiteilige Fotobibel. Ich habe den Inhalt dieser Bücher zu einer Glaubensfrage gemacht, zum Gesetz erhoben. Wie albern. Noch immer bemühe ich mich, davon loszukommen. M. schwört auf seinen inneren Ansel Adams. Das Ziel der Ordnungsmacht, der gelehrige Körper.

Die Kamera ist ein Werkzeug. Meine Leica allemal. Ich frage mich, warum ich ein solch teures Werkzeug gekauft habe? Weil sie super einfach zu bedienen ist. Weil sie ein Statusobjekt ist. Weil sie ein Handschmeichler ist. Und weil die Technik begeistert und die Optik führend ist. Weil die Leica eine Erweiterung der Handlungsoptionen ist. Meiner Handlungsoptionen. Darum geht es.

Nicht die Produktion der Bilder, sondern ihre Verwendung. Klaro. Weiß ich seit der Montage. Der Collage. Dem Moodboard. Ein Bild ist ein Bild ist ein Bild. Wer verwendet das Bild, wofür? Die Verwendung der Bilder wird reguliert. Einer Ordnung anheimgegeben. Dazu gibt es Wächter, die über die Einhaltung der Regeln wachen.

Ich bin in der sozialistischen Kinderheimrepublik aufgewachsen. Vielleicht war es auch die Vorstufe, die kommunistische Kinderheimrepublik. Wir waren alle gleich unterschiedlich. Alle waren wir das Lieblingskind der Ordensschwester. Vielleicht war es eher ein Kinderheimregime der Gewalt, der Verwahrung, der Zurichtung, der Unterdrückung. Ich soll nicht an mich denken. Klein soll ich sein. Unscheinbar. Ich sei ohnehin mit einem Stigma versehen. Kinderheimkind. Da brauche ich nicht noch aufzufallen. Ich weiß nicht, ob die Ordensleute die Idee des grauen Mannes erfunden haben. Aber sie haben mich verdammt gut geschult. Jetzt ist Gegenteil. Ich soll an mich denken, an uns, sagt E. Zärtlich. Das ist keine Regel, es ist ein Ansinnen. Ein Bedürfnis.

Mir ist es ein Bedürfnis, Bilder zu machen. Mit den Werkzeugen. Mit der Camera Obscura. Mit der analogen Kamera. Mit der digitalen Kamera. Immer schon. Immer zu. Als Kind. Als Jugendlicher. Als Erwachsener. In den Fotos kann ich Zeichen, Motive, Gestalt und Gestaltung und Gedanken finden, von früher. Sie sind seit der Kindheit da. Ich kann sie sehen. Andere nicht. Nicht unbedingt. Vielleicht wäre es anders, wenn ich mehr Ordnung in meine Bilder bringen würde. S. sagte so was. Mein Insta-Feed wäre einfach nur Unordnung. Wofür stehst du, fragt er. Was willst du verkaufen, fragt er.

Ganz kurz dachte ich, ich müsse eine Marke sein. Ich habe es dann aber schnell sein lassen. So eine Zurichtung meiner Selbst wollte ich nicht über mich kommen lassen. Ich wäre in der Alternativlosigkeit erstickt. Ich wäre ein Konstruktionsfehler der Wirklichkeit geworden. Gut zu fotografieren, zu reportieren, zu studieren, zu regieren, zu sezieren.

Die Oberfläche der Wirklichkeit abfotografieren, das ist es, was ich tue. Tag für Tag. Immerzu. So werden die Fotos in meinem Universum mehr und mehr und mehr. Manche entlasse ich ins noch größere Universum der technischen Bilder. Manchmal verschwinden Bilder aus den Universen. Die Wirklichkeit bleibt davon unberührt.

Dann bringe ich Text und Bild zusammen. Konstruiere, montiere. Ich erschaffe, ich konstruiere Wirklichkeit. Tag für Tag. Ich irritiere mich. Dich. Andere. Ich interveniere. Dringe ein. In meinen Alltag, in deinen, in den der Anderen. Wieso ich irritiere? Frag dich das doch selbst! Du!

Jedes Foto ist ein Ereignis. Davor und danach existiert es nicht. Ist es nicht erzählt. Ist es abwesend. Das Aneinanderreihen von Ereignissen ergibt keine Erzählung, keine Wirklichkeit. Es entsteht keine Zeit. Es lädt nicht ein, zu bleiben. Ich lade zum Abschluss des Wüstentags zu einer gemeinsamen Runde ein. „Erzählen sie“, sage ich, „was sie erfahren haben. Welche Erfahrung sie gemacht haben. Zählen Sie nicht Ereignisse auf. Die sind ohne Kraft.“ Sage ich.

In den Nachrichten werden Ereignisse aufgezählt und aneinander gereiht. Hier ein Mord, dort ein Totschlag und überhaupt der Krieg. Der Krieg ist eine Aneinanderreihung von Sterben. Der Krieg ist ein einziges, dichtes Ereignis des Sterbens. Fotos können das gekonnt zeigen. Das Ereignis. Sie vermögen nicht den Schmerz, das Leid, die Trauer zu zeigen. Das sind Erfahrungen.

Text und Bild sind durch eine innere Ordnung verbunden. In Zeitungen, Büchern, Onlinejournalen und Newslettern. Es ist nicht einfach, Bilder zu betrachten. Man muss sie sich aneignen. Man muss sie sich regelrecht aneignen, ausreisen, herausschneiden. Das Betrachten von Bildern ist Arbeit.

Regelwerk zum Betrachten von Bildern:
1) Nimm das Bild an Dich, 2) Füge das Bild in Dein Universum der Bilder, 3) Ergänze es, wo nötig, mit Text oder anderen Bildern – erstelle Deine Montage!

Schon länger pinne ich Fotos, die mir ins Auge fallen, die mich anregen, an die Wand. Genauer: an die Längswand des Zimmers. Eines Tages fing ich damit an. Mit dem ersten Foto. Dem Nukleus. Dem Kristallisationspunkt. Ich ziehe Linien. Von einem Objekt zum anderen. Ich verknüpfe die Objekte. Ich schreibe Text dazu. Auf die Wand, neben das Bild. Oder auf Haftnotizen. Die klebe ich auf das Bild. Oder daneben. Oder darunter. Manchmal ergeben sich neue Gedanken. Die ich aufschreibe und an eine geeignete Stelle an der Wand anbringe. Die Wand verlangt das. Ich verlange das. Etwas in mir will das. Vieles ist überdeckt von dem, was ich später dazu schrieb. Oder durch ein Bild, das ich darüber pinnte. Das Zimmer hat sich merklich verkleinert. Oder die Wände sind dicker geworden. Viele Schichten von Ereignissen verdichten den Raum. Nicht mehr nur die Längswand nutze ich. Es ist ein Zimmer mit vier Wänden, einem Fenster, einer Tür. Alle vier Wände nutze ich. Das Fenster habe ich auch schon überklebt mit Bildern. Und Zeitungsausschnitten. Das Fenster! Auch die Innenseite der Tür. Am Türrahmen sieht man am ehesten, wie dick die Wände geworden sind. Dann fing ich an, auch die Zimmerdecke zu nutzen, auch den Fußboden. Manchmal nehme ich an einer Stelle Schichten ab, um an den Ursprung der Ereignisse zu gelangen. Ich nehme sorgfältig Schicht um Schicht ab, um sie sorgfältig an anderer Stelle aufzutragen. Und stets kommt Neues hinzu. Neues, dass ich von meinen Ausflügen mitbringe, Neues, dass ich im Zimmer aus dem Alten erzeuge. Es macht mir Freude, zu arrangieren und zu montieren. Es macht mir Freude in diesem Zimmer zu sein, zu sein und mir die Ereignisse zu Geschichten zu erzählen. Laut zu erzählen. Immer wieder. Immer wieder aufs Neue. Und jedesmal anders. Keine Geschichte ist gleich. Keine Geschichte wiederholt sich. Eine Erzählung folgt der anderen. Und keiner hört mich. Keiner sieht mich. Ich bin alleine im Zimmer. Allein. Aber ich höre alles. Ich höre mir zu. Ich lausche den Erzählungen. Wie ein Podcast in meinem Kopp. Wie ein Videocast vor dem inneren Auge. Wie das Fenster zur Welt. Zu meiner Welt der Wirklichkeit.

Würde das Zimmer in Flammen aufgehen, entstände etwas Neues. Disruptiv. Wow. So stellte ich mir früher die Revolution vor. Oder Veränderung. Alles musste schnell gehen. Plötzlich. Vielleicht überraschend. Ich wollte nirgends bleiben. Stillstand ist Tod. Gegenteiltag. Die Hände in den Schoß legen. Gammeln. Bleiben. Gehen. Freiheit. Sich irritieren lassen. Andere irritieren. Viva la Revolution.

Leichtfertig übernehme ich Ordnungen anderer. Ordnungen in Form von Regeln, oder Normen. Ich liefere mich selbst der Normativität anderer aus. Ich liefere mich selbst den normativen Kräften aus. Foucault hat mir aufgezeigt, wie die Ordnung der Dinge entsteht. Wie sich wissenschaftliche Diskurse organisieren, um Normen zu entwickeln. Wie Wirklichkeit erfasst und zugleich normiert wird. Diese Mechanismen der Gewalt und der Macht durchdringen alle Alltage. Am Stammtisch kann ich mit anderen darüber klagen oder mich bei Konflikten auf die eine oder andere Seite schlagen. Als ob das meine Kriege sind, meine Kämpfe, meine Spiele.

Ich liebte bis in jüngster Vergangenheit den Regelverstoß. Um einen Regelverstoß zu begehen, muss ich die Regeln kennen. Ich bin also kein Laie mehr. Vielleicht schon ein Könner. Der Regelverstoß, der gezielte, zeugt von Könnerschaft. Er könnte davon zeugen. Wenn der Regelverstoß als Regelverstoß anerkannt wird. Anerkannt wird von denen, die die Regeln aufstellen. Wer macht die Regeln? An wen kann ich mich wenden, um meinen Regelverstoß anerkennen zu lassen? Auf dem Platz ist es ganz einfach. Sagte man mir. Da hat’s den Schiedsrichter.
Meine Mutter drohte mir an, wenn ich noch einmal den Gegner foule, hole sie mich vom Platz. Dann, sagte sie, war dass das letzte Spiel, dass ich mache. Ich war ziemlich stinkig, nach dieser Ansage. Prompt verloren wir das Spiel. Sie hatte nicht nur mir gedroht.

Aus Trotz, vielleicht, habe ich gegen Regeln verstoßen. Und wie zuvor erwähnt, H. mag das nicht. Ich aber sah darin ein Fortkommen. Selbstbehauptung. Mich frei strampeln. Den Konventionen entkommen. Ihr blöden Spießer! Euch zeige ich’s.

Der Regelverstoß ist Teil der Regel. Er ist der Regel immanent. Er bestätigt die Regel. Er bestätigt diejenigen, die Regeln aufstellen. Regel und Regelverstoß sind wie Yin und Yang. Yin und Yang sind eins im Taiji. Das Taiji entspringt dem Wuji, dem Urgrund der Wirklichkeit. Die Wirklichkeit ist jenseits Yin und Yang. Der Lauf der Dinge, das Taiji, entspringt dem Wuji. Regeln sollen Wirklichkeit konstruieren, sind selbst aber abstrakt und folgen nicht dem Lauf der Dinge. Sie sind nicht Eins. Sie entspringen nicht dem Urgrund. Stattdessen gibt es mehr und mehr Regeln, Konzepte und konkurrierende Ordnungen, die sich selbst genügen und die Einheit, Nicht Zwei, aus dem Sinn verloren haben.
Das Eine, Wuji und zugleich Taiji, die Überwindung von Leid, wie die Buddhisten sagen, ist jenseits der Regeln, jenseits von Yin und Yang. Yin und Yang sind zugleich das Taiji.
Im Taijiquan finde ich die Prinzipien des Taiji und des Wuji. Egal, wo ich übe, an welchem Ort, zu welcher Tageszeit oder Jahreszeit. Taijiquan ist eine innere Suchbewegung. So wie Meditation eine innere Suchbewegung ist. Ich arbeite lediglich mit mir, meinen Sinnen, meinem Körper, meinem Geist. Ich bin ganz bei mir. Und ich arbeite mit Konzepten und Grundvorstellungen.
In der Fotografie arbeite ich auch mit Konzepten und Grundvorstellungen. Sie werden als Regeln postuliert. Regeln, die mir den Weg zu einem gelungenen Bild weisen. Regeln, die mich dabei unterstützen, ein brauchbares „Negativ“ zu erzeugen. Regeln, die mich dabei unterstützen sollen, ein bildsprachlich verständliches Foto zu computieren.

Der Fotoapparat ist, sobald ich ihn benutze, eine Verlängerung meines Körpers. Er ist dann nicht mehr nur Apparat. Apparat und Körper verschmelzen. Unabhängig vom Befolgen der Regeln, der Vorgaben, der Konzepte und Ideen. Der Fotoapparat ist sein eigenes Konzept, seine eigene Theorie. Wir verschmelzen und zugleich stellt sich die Frage, ob ich den Apparat bediene, oder ob mich der Apparat bedient? Kann ich Regeln, Algorithmen, die im Apparat verborgen sind, zuwider handeln? Ist das überhaupt möglich?
Menschmaschinenmensch.

Jede Fotografie ist eine Irritation unserer Vorstellung der Wirklichkeit. Die Fotos haben die Tendenz, wie die Fotografie als solche, sich vor die Wirklichkeit zu setzen. Sie gaukelt den Betrachtenden vor, sie bilde die Wirklichkeit ab. Das ist natürlich Blödsinn. Jeder und jede weiß es. Und doch behandeln wir die Fotos so, als ob sie die Wirklichkeit sind. Wir folgen den Ereignissen, statt den Erfahrungen.

Fotografien beeindrucken. Sie hinterlassen Eindruck. Sie drücken sich in unsere Erinnerungen ein. Fotografien schaffen Eindruck. Fotografien sind eindrücklich. Eindrücke gaukeln mir vor, sie seien Erfahrungen. Erfahrungen basieren jedoch auf die Wahrnehmung mit allen Sinnen. Fotografien können Sinne reizen. Überreizen. Die Flut der Bilder, das dröhnende Rauschen der Bilder, der nicht abbrechende Strom der Bilder, überreizt die Sinne, bis zur totalen Erschöpfung. Und doch kann die Fotografie nicht mit allen Sinnen wahrgenommen werden. Denn das, worauf die Fotografie zeigt, also das, was sie abbildet, ist nur mit den Augen wahrnehmbar. Die Fotografie reduziert mich auf das Sehen. Es verwehrt mir das Schauen. Ich mutiere zu einem Zyklopen. Die anderen Sinne verkümmern.

Sehen beansprucht Genauigkeit. Alle Besucher einer Ausstellung sehen dasselbe Bild. Was sie mit dem Gesehenen anstellen, ist ihre Sache. Das Bild, die Fotografie selbst, ist eindeutig. Es sagt immer dasselbe aus. Man muss nur eben richtig hinsehen.
Schauen ist vieldeutig. Es ist kontemplativ. Schauen ist umherschweifen. Schauen folgt keiner Regel. Schauen unterwirft sich keinem Regime. Schauen nimmt an, dass die Bilder nicht eindeutig sind.

Eine Ordnung, die definiert und aufgebaut wird, soll auch durchgesetzt werden. Regeln und Gesetze sollen das bewirken. Eine Ordnung benötigt eine Ordnungsmacht. Gegen die Ordnung und die Ordnungsmacht macht sich Widerstand bemerkbar. Ordnung und Gegen-Ordnung. Dagegen, dabei.

Aus einer Gegenbewegung entsteht nichts Neues. Die Gegenbewegung, der Widerstand gegen die Ordnung, ist, ich schrieb es schon, impliziter Teil der Ordnung. Bewegungen, die aus einem „Gegen“ entstehen und die „alte“ Ordnung überwinden, sind die alte Ordnung unter anderen Vorzeichen. Die Revolution ist eine Umdrehung, ein Zurückwälzen des Bestehenden. Manche sehen in der Revolution die Wiederherstellung eines alten legitimen Zustands. Revolution und Gegenrevolution. Was bleibt ist die Weiterentwicklung der Techniken, auch technischer Bildgebungsverfahren. Diese Art Entwicklungen sind nie revolutionär. Bewegung und Gegenbewegung sind gesellschaftliche, aber auch physikalische Phänomene.

Unterliegt die Fotografie einer Ordnungsmacht (das Universum der technischen Bilder)? Oder haben wir es mit unterschiedlichen Ordnungen und Ordnungsmächten zu tun?

Liste einiger Bildregime:
a) Museumsregime, b) Fachpublikationsregime, c) Galerieregime, d) Kunstmesseregime, e) Berufsvereinigungsregime, f) Agenturregime, g) Überwachungsregime, h) Biopolitisches Regime, i) Laienverbandsregime, j) Betroffenenregime, k) Redaktionsregime, l) Propagandaregime, m) Kunstkritikerregime, n) Historikerregime, o) Archäologenregime

Alle Bildregime haben ihre eigene Agenda, ihre eigenen Ziele, ihre eigenen Regelwerke. Die Bildregime konkurrieren untereinander. Sie machen Entstehen, sie machen Vergehen. Sie bestimmen die Lebenszyklen der Bilder. Unbedarft habe ich mich im Laufe der Zeit vor den Karren des einen oder anderen Bildregimes gespannt. Ich kann sagen: Nie wurde ich vor etwas gespannt. Ich habe mich eigenständig vor den einen oder anderen Karren gespannt. Ich tat dies in bester Absicht. Ich tat dies, weil ich in dem Dagegen die Möglichkeit des Dabei und des Dafür sah. Ich wollte nicht tot sein. Tot sein. Dann hätte sich all das Leid erübrigt. Profitieren wollte ich nicht. Nicht schmarotzen, nicht abkupfern. Im Dagegen sah ich die aufrichtige Möglichkeit, etwas anderes zu erwirken. Einen Aufbruch. Eine Abkehr. Die Verhinderung von Etwas. Das Loslösen von Etwas. Allein, es war eine Illusion. Es ist eine Illusion. Im Dagegen ist immer ein Teil Abwertung des Anderen, Umwertung, Diffamierung, Geringschätzung. Was den anderen, das andere trifft, trifft auch immer mich selbst. Der Finger, den ich auf andere zeige, zeigt immer auf mich selbst. Dagegen ist keine Option. Keine Option mehr. Keine Option.

Akzeptierst du es? Akzeptiere ich es? Ja? Dann jammere nicht. Nein? Dann gestalte! Im Grunde geht es um die Beendigung all der Dramen, der Großen wie der Kleinen, die ich im Leben spiele. Viele Dramen, gleichzeitig. Manche sind vorbei, klingen aber noch nach. Manche wollen begonnen werden. Ich bin dieser Spiele müde geworden. Wie wohltuend ist die Eigenzärtlichkeit. Ich schreibe bewusst dieses merkwürdige Wort. Eigenzärtlichkeit. Zu sich selbst zärtlich sein. Selbstzärtlichkeit. Ich könnte jetzt darüber schreiben, warum ich nicht von Selbstwert schreibe. Oder Selbstliebe. Allein, ich tue es nicht. In der Zärtlichkeit entfaltet sich etwas, das die Kraft hat, Neues zu gebären. Neues zu gebären heisst zu gestalten, die Verantwortung zu tragen für das, was man bewirkt oder erwirkt. Zärtlichkeit entfaltet sich in den Worten und mit den Worten, die man wählt. Sie entfaltet sich im Tun und im Denken.

Wer die Ordnung nicht liebt, wird Hass ernten. Die systematische Vernichtung, Unterdrückung, Bestrafung und Kontrolle des Widerstands. Der Bewegung. Sich gegen die Ordnung zu stellen, kann ernsthafte Folgen nach sich ziehen. Beim G8-Gipfel wurde die antikapitalistische Demonstration vom Versammlungspunkt weg verprügelt. Die Demonstrierenden wurden körperlich gezüchtigt. Ihnen sollte die Lust auf Dagegen aus dem Leib geprügelt werden. Die Ordnungsmacht demonstrierte ihre Macht, Ordnung zu machen. Bewegung nur in die dafür vorgesehene Richtung. Die Ordnung ist nicht infrage zu stellen. Es drohen Sanktionen, Unterdrückung, Krieg, Vertreibung, Genozid. Die Ordnungsdiskurse verlaufen weniger blutig, aber nicht minder radikal. Auch nur ein wenig zu sehr dagegen führt den Ausschluss nach sich. Hass und Gewalt, dagegen, dafür. So viel Leid.

Nun beginnt der Sommer der Gegenwart. Ich sitze in meinem Garten. Bin isoliert von den anderen. Bin isoliert von allem. Keiner kann mir was. Über mein Taschentelefon halte ich Kontakt. Die Überwachungskamera sendet mir Bilder aus dem Zimmer der Erzählungen. Ich selbst traue mich dort nicht mehr hinein. Eines Tages hatte es angefangen. Die Wände verschoben sich ohne mein Zutun. Die Bilder und die Worte und Sätze bildeten eigene Erzählungen in einer Sprache, die ich nicht verstehe. Die ich nicht mehr verstehe.
Im Sommer der Gegenwart in meinem Garten. Geahnte Figuren. Geahnte Bewegungen. Geahnte alle. Alles. So sieht die Welt aus, flüstert es aus mir heraus. So sieht die Welt aus!