Vordunkel

Ursprünglich dachte die RDS, die Umstände beeinflussen zu können, egal auf welchem Terrain wir doch so Verschiedene unterwegs waren, doch das stellte sich als eine von Illusionen gespeiste Vorstellung heraus. Die «Zweite Wende» hatte zwar zur Folge, dass wir uns noch stärker zusammengehörig fühlten, als das ohnehin schon der Fall war, dennoch reichte es nicht aus, um sichtbare Spuren mit augenfälligen Konsequenzen zu hinterlassen. Angetreten mit der Überzeugung, dass dieses Land in seiner freiheitlich demokratischen Grundordnung genügend Mitbestimmungsmöglichkeiten anbietet, richteten wir uns darin bequem ein, um eben nicht wieder dieselben Fehler zu begehen, die schon historische Revolutionäre begangen hatten, da sie dem Irrglauben verfallen waren, ein kompletter Systemwechsel brächte das Heil für alle. Der Geschichtslehrer überzeugte Karsch ein paar Jährchen früher mit einem einfachen Bild vom Wesen des Umsturzes. Dazu diente ihm die Armatur eines Automobils, speziell der Drehzahlmesser. In englischen Fahrzeugen heißt es dort «Revolution per Minute». Umdrehung also, was eigentlich nur Schnapstrinker hierzulande in ihrem Vokabular führen. Bei zwölf Uhr geht’s los und endet wieder dort. Also keine Veränderung. Diese Tragik muss man erst einmal aushalten können. Für alle. In den wenigen Jahren vor dem Wechsel fühlte sich das Leben zwischen Virtualisierung und Oberfläche wie Blei an. Schwer und vergiftet. Spätestens in den Achtzigerjahren war den Kindern des Konsums glasklar, dass die Gewissheiten, mit denen noch deren Eltern aufgewachsen waren, für sie nicht mehr gelten konnten. Wie auch. Es war ausgeschlossen, dass sie sich einfach aus dem Bereich des Quasi-Öffentlichen zurückzogen, um zu heiraten, arbeiten zu gehen, ein Haus zu bauen, einfach nur Kinder großzuziehen und irgendwann in Pension oder Rente irgendeinen Rasen zu mähen oder mit den Enkeln zu spielen. Sie wussten zwar, dass sie sicher nichts werden würden. Denn das kam erschwerend hinzu: Eine prominente Karriere wollte niemand von den Helden der RDS in Angriff nehmen. Und in der Anfangszeit, die sich durch eine gnadenlose Affirmation alles Schrecklichen auszeichnete und nur mehr negative Helden gelten ließ, verhießen Gandhi oder Mutter Teresa lediglich melancholische Erinnerungen an verlorene Möglichkeiten; Handlungsoptionen konnten sie nicht mehr anbieten. Gerade vor dem Fall der ersten Mauer grassierte bei denen, die aus dem Westen stammten, ein gespürtgelebter Zynismus. Der Planet konnte zigfach in Flammen aufgehen. Das galt so viel wie die absurde Vorstellung eines Typen, der etwa 23 Fahrräder besitzt und meint, er führe sein Leben effizienter und gesünder und fitter – ohne je eines zu fahren. Surrealer konnte die Gegenwart nicht sein, wenn die Fahrt über den Transit ging und man durch eine Art Volksgefangenenlager fuhr. Kannte die Clique zwar damals nur wenige Menschen der DDR, urteilte sie doch schnell. In dieser Phase lebte Karsch aus Bildern. Diese waren der Spiegel der Wirklichkeit auf seiner Netzhaut, den er als Tatsache nahm. Wie wesentlich weniger galt ihm das Faktische selbst: «Wie in einem schlechten Film», hieß es damals, und diese Einschätzung beziehungsweise Lagebeurteilung war sein heiliger Ernst. Was sollte man auch davon halten, wenn um die 35 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in der Nachbarschaft ein Staat sich zu behaupten versuchte, oder, besser: sich dahingehend aufpumpte, der seinen Einwohnern zwar den Himmel auf Erden versprach, nicht aber genug Butter fürs harte Brot bescherte und einen Teil davon überdies noch willkürlich einkerkerte und so manch armen verliebten Jungen nicht unzensiert seiner Liebsten schreiben ließ, was das Herz oktroyierte. Klar, es ist ja immer so, dass die anderen den Wein saufen. Da sie aber niemand in die Kreise von Dissidenten hinein initiierte, bekamen sie auch hier keinen Halt durch ein Ziel, für das es sich zu kämpfen lohnte. Zu jung für Wackersdorf oder Gorleben, zu weit entfernt von all dem anderen. Fünf Jahre zuvor grassierte zudem die große H-Welle. Mit Christiane F., der Pflichtlektüre zu Teenagerzeiten, erhielten sie anständige Aufklärung über einen weiteren Abgrund unserer damaligen Gegenwart. Derart zerstörte also die Konsumwelt labile Individuen, dass ihnen selbst der geringste Wunsch nach einem ganzheitlichen Rausch durch Todesangst vergällt war und sie den Marktmechanismus dahinter wichtiger nahmen als etwa den Rausch selbst. Wichtige Erkenntnis des Überlebens in Zeiten alles Konsumierbaren. Es war eine Vorstellung der Widerlichkeit, sich diejenigen auszudenken, vorzustellen, die in feinen Nadelstreifen solche unheiligen Geschäfte tätigten. Dennoch, der Gipfel des sich real verschlimmernden Zynismus war längst nicht erreicht. Und sicher waren diese jungen Menschen nicht aus der Zeit gefallen, und andere Generationen vor ihnen hatten ebenfalls Möglichkeiten, an den herrschenden Umständen die schrägen Momente zumindest als befremdlich zu empfinden. Nur, so dachten sie, hatte es doch längst die schlimmsten Zeiten gegeben, und es sollte doch gelernt und stetig verbessert werden. Wenn die’s gewusst hätten! Hinwiederum die Allgemeinheit nicht einen Deut bereit zu sein schien, ihnen Signale einer positiven Aufnahme unserer Leistungen, von denen sie natürlich selbst am wenigsten überzeugt waren, zu senden. Es hatte den Anschein, als ändere sich rein gar nichts, ganz gleich, ob sie sich nun engagierten oder eben nicht. Karsch erinnere sich noch an einen Besuch in Plötzensee. Da muss er vierzehn, fünfzehn Jahre alt gewesen sein. Unvergessen, als er in dem unheimlichen Raum stand, in dem die Nazi-Opfer hingerichtet worden waren. In dem die Nazis, die realen, die echten, die ganz und gar die Situation beherrschenden Schänder, diese Bösen schlechthin, Henker, unbegreiflich Abgründige, so abgründig, wie es nur eben Menschen sein können, ihre niemals nachvollziehbaren, nicht zu entschuldigenden, gar zu rechtfertigenden Mordtaten mit deformierten, mutierten, unvorstellbar abseitigen Nicht-Gewissen vollbrachten. Die Wände stürzten über ihm ein. Nicht auf den Kopf, aber in ihn hinein. Das waren seine Wände, die er dort spürte, denn er wollte es eigentlich sein, der dort zum Mahnmal aller gehenkt worden war. Ihm und den seinen der Eigenzeit blieb hingegen nur die Zweitklassigkeit des Nachhausegehens. Doppelte Verstörung, vierfache Irritationen, Spiegelungen, Verdrehungen. Nichts war an seinem Platze. Und sie fühlten, dass sie kein Recht hatten, den Platz festzulegen, an dem etwas zu ruhen hatte. Sehr beliebt zu jener Zeit war auch immer das Spiel «Ich kann ja gar nichts». Talentlos fühlten sie sich. Heute kann er gar nicht mehr sagen, zu was sie denn eigentlich talentiert sein wollten. Popstar werden? Na ja, diesen kruden Wunsch hatte er zumindest schon im Alter von vierzehn Jahren verabschiedet. Was zu einer Zeit, in der Castingshows das abendliche Bedröhnfernsehen beherrschte, immer noch eine Lebensperspektive viel zu vieler zu sein schien, die dazu bereit waren, sich von einem verblödeten Vollpfostenhorst in die Dümmlichkeit eines stets uniformen Soundposings prügeln zu lassen. Ende Linear-TV. Aus. Kräht heute niemand nach. Ist ja alles auch noch schlimmer gekommen, als wir alle hätten mutmaßen können.

Es ist schon ein seltsamer Umstand, dass sie damals so viel Mitgefühl aufbrachten und sich über Metaprobleme den Kopf zerbrachen. Jedoch die einfachen Fragen nach Zielen und Vorstellungen für die Zukunft, die stellten sie sich nie ernsthaft. Vielleicht auch, weil immer alles schon klar war. Nach der Grundschule hieß es gleich Gymnasium. Und später dann sollte studiert werden. Das alles trat ein. Als ob das Leben einem Naturgesetz folgte. Ganz wie der Körper sich ausbildete und in der Pubertät mit neuen oder erweiterten Funktionen ausgestattet worden war. Ist das nicht seltsam? Bis auf den heutigen Tag findet Karsch keine rechte Erklärung für diese frühe postmoderne Haltung, außer, dass er den gedanklichen Schriftführern der damaligen Zeit, die er dann während des Studiums genießen konnte und erlitten hat, nur Recht sprechen kann.

Eine Rückkehr in die Zeiten vor allem Anderen. Schule – was war das noch? Wie lief’s da denn? Ich erinnere mich an eine Zeit, da kam ein Mädchen zu mir. Wir besuchten dieselbe Schule. Sie, eine Klasse unter mir, stammte aus einer der interessanteren Familien. Musik, Malerei, Kultur, Konzerte, Ausstellungen und große Städte. Ihre Geschwister besuchten allesamt unser Gymnasium. Bürgerkids vom Feinsten. Sie waren sehr begehrt. Karsch hatte nicht wissen wollen, was aus ihnen geworden ist. Mit dem Abitur kam bekanntermaßen spätestens der Bruch. In der Zeit davor öffnete er sich beispielsweise auch für die Inhalte, die in der Schule gelehrt und auch nicht gelehrt wurden. Nicht, dass er seine Faulheit vollständig in den Griff bekommen hätte. Das funktioniert bei Menschen wie ihm ein Leben lang nicht. Jedoch zeigte ihm diese Zeit, dass es Schönheit gibt, mit der man sich bereichern oder anreichern kann. Auch wenn es Zeit und Mühe kostet. Aus dieser Zeit besitzt er noch heute ein Instrument, dessen Erlernen sich unmittelbar dem Einfluss dieser ersten Liebe seines Lebens verdankt. Sie spielte Klavier und Violine, er hingegen, er fühlte sich als Proletariersohn doch sehr als Außenseiter. Daher stand ihm die sprichwörtliche Erste Geige nicht zu, meinte er. An einem Kontrabass hatte er keinerlei Interesse, und das Violoncello schloss sich wegen der damaligen Mode selbst aus. Jedes faszinierende Mädchen, das rätselhaft, in sich versunken und Korkenzieherlocken schwingend: kurz, interessant war, spielte Cello. Was blieb da anderes, als genau dasjenige Instrument, das auch seiner Persönlichkeit vielleicht am nächsten kam: eine Bratsche. Und der große Vorteil von Gegenständen ist ja, dass sie, sofern sie nicht auf Verschleiß hin angelegt sind, gefühlt ewig halten. Sie lebt immer noch, und jüngst hat er sie restaurieren lassen bzw. wieder regulieren lassen. Und zwar vom Erbauer selbst, der ihn aufgrund einer Abbildung auf seiner Webseite ausfindig machen konnte. Es ist bisweilen Magie in den Dingen. Vor allem in Dingen wie einem Streichinstrument. Hat es etwas mit dem Holz zutun? Sicher, Karsch war eher einer der schrecklichen Dilettanten. Denn seine Bogenführung war entsetzlich, und seine linke Hand ließ in Sachen Geläufigkeit arg zu wünschen übrig. Schließlich arbeitete er nicht in der Musik. Das Musizieren war allein mit Blick auf die notwendige Zeit ein enormer Luxus, den er sich nur selten erlauben konnte. Ganz allgemein blieb der Konsum. Der vorgängigen Gegenwart, wir schelten sie bisweilen, ist zugutezuhalten, dass sie die Bratsche entdeckt hat. Das war vor 20 Jahren noch etwas ganz anderes. Wie selten bekam man etwas von einschlägigen Konzerten mit, obschon die Moderne sie mit Paul Hindemith längst entdeckt hatte. Heute stellen die großen Feuilletons Bratschenaufnahmen vor, und junge Musiker, etwa Nils Mönkemeyer, Benjamin Rivinius oder Antoine Tamestit, leisten enorm viel für eine positive Publizität dieses von Karsch so geliebten Aschenbrödels der Instrumentenfamilie. Die Bratsche ist eine Mittlerin. Sie ist weder Fisch noch Fleisch. Sie ist das transzendenteste aller Streichinstrumente. Und damit ist die Viola auch das geheimnisvollste Instrument. Weder Welle noch Teilchen. Aber beides zugleich. Man denke umgehend an Max Regers Sonaten. Die erste Aufnahme, die Karsch besaß, hat Hirofumi Fukai eingespielt und ihn damals für alle Zeiten auf eine Interpretation eingeschworen. Eigentlich hätte er sich die Zeit nehmen müssen, die nun über Streamingdienste verfügbaren Interpretationen miteinander zu vergleichen. Denn immer wieder einmal tritt eine neue Variante hinzu. Die Aufnahme von Nobuko Imai etwa. Dann jedoch sollte er wieder tiefer in die Musik eintauchen, sollte wieder ernsthafte Erinnerungsarbeit leisten, die Noten hervorkramen, mitlesen, Zeichen mit Bleistift hineinmalen: das, was er in seinem Beruf in einer anderen Episteme zu tun pflegte. Wissen schaffen. Formeln schreiben. Abhören ermöglichen. Kanäle erschließen. Es wird ihm nicht gelingen. Er blökt bisweilen: «Ich höre und höre und höre.» Aber diese Freiheit ist gestorben. [Fortsetzung folgt vielleicht]

Soundtrack: Nils Mönkemeyer, Weichet Nur, Betrübte Schatten, Sony Classical, 88697414442, 2009