Mein Name ist Holger Karsch, und ich bin der Übersetzer der Radical Dude Society. Ich bin nicht unbedingt das, was als schöpferisch bezeichnet wird. Stattdessen das Schreiben durch den Kopf des Anderen. Ich habe das Manuskript abgeholt und mich an die Arbeit begeben. Es ist ja nicht das erste Mal. Jetzt arbeite ich besessen. Sich hineinzuversetzen, ist mir noch niemals schwergefallen. Schließlich lese ich viel, wenn ich nicht arbeite, und wenn ich arbeite, lese ich natürlich auch. Außerdem trainiere ich, weil ich schreibe, selbst wenn es nur Tagebucheinträge sind, die ich verfasse. Ich denke mich in die Psychologie der Figuren ein. Beispiel: Sehr fein beschrieben, dieser alternde Arzt, wie er da allein in einer Vorstadt lebt, abgeschieden; ausgemustert hat er sich selbst. Kein wirklicher Einzelgänger. Jedoch sein Umfeld ist nicht nach seiner Façon gestrickt. Denn im Grunde ist er ein sehr kultivierter Mensch, der Rotweine zu schätzen weiß, wenn ihr Flaschenpreis eine dreistellige Größe annimmt. Ich sehe ihn in seinem groben englischen Tweed, Dreiteiler zu jeder Tages- und Jahreszeit. Ich sehe, wie er Tag für Tag in den Postshop des hiesigen Supermarkts geht. Naturgemäß zu Fuß. Er erwartet den Brief seiner Tochter, deren Leben eine Wende genommen haben soll, raunt es zunächst aus den Zeilen. Am Telefon mag sie sich nicht dazu äußern.
Ich betrachte seine sorgfältig gefeilten und gepflegten Fingernägel, wie sie trippelnd am Revers kundtun, dass er ungehalten ist. Wie sich in ihm nach und nach die Ungeduld zu einem aggressiven Drängen auswalzt, was er umgehend reflektiert und sich infolge seiner im Vergleich zu den Mitmenschen luxuriösen Nachdenklichkeit wie ein herrischer Kontorvorsteher vorkommt. Despotie über die Zeit? Ich registriere den subtilen Wechsel, der aus einem Moment des Umschlagens der schieren Emotion in Selbsterkenntnis erwächst und die Finger jählings zur Ruhe bringt. Bis die Bedienung ihn registriert und ihm mitteilt, dass wieder einmal keine Sendung vorliegt. Jetzt erreiche ich sein Bewusstsein, als er mit leichter Ermattung und kaum zu verdrängender Enttäuschung den Parkplatz überquert, sich aufrichtet und doch wiederum sich leicht vornüberbeugt und den Gedanken verdrängt, heute noch telefonieren zu müssen. Er bleibt stehen und starrt auf seine Schuhe, die er vor Jahrzehnten hatte maßanfertigen lassen. Sie begleiten ihn immer. Treffliches Schuhwerk, das hatte ihn der Vater gelehrt, ist das grundlegende Utensil für den sicheren und aufrechten Gang durch die Unbilden des Lebens. Diese Weisheit übernahm er und verabscheute von jeher alles Modische, was ihm bereits im Studium den Ruf eines Dandys, der aus der Zeit gefallen war, eingetragen hatte. Was hatte es ihn geschert? Er nimmt auf einer Bank Platz und fischt seine Zigarillos aus der Innentasche. Romeo y Julieta Mini. Weiße Schachtel, weiße Schrift auf rotem Streifen, goldene Verzierungen, ein kitschiges Pärchenbild mit Einschlag. Dieses Braun: leicht glänzend, leicht changierend.
Acht Millimeter Durchmesser, acht Zentimeter Länge, maschinenfabriziert: ganz einfach. Er entzündet gemächlich das Streichholz, versetzt das halbkostbare Stück mit Bedacht in den rechtschaffen glühenden Zustand. Sieht, wie die kleinen pickeligen Erhebungen und wie menschliche Adern schöner Gestalten aus fernen Ländern anmutenden Leitungsgefäße der Pflanze allmählich zur grauen Asche verglimmen, die immer noch dieselbe Struktur besitzen und nur die Farbigkeit des Lebens gegen das Kolorit des Todes getauscht haben. Seine Züge nehmen die leichte Süße auf und inhalieren das letzte Drittel der Menge des Rauchs. Wenn man mit siebzig Jahren zurück zum Zenit der Kraft schaut und sich so fühlt wie er, kann man dann in seinem Leben irgendetwas falsch gemacht haben? Roberts Verstand gerät in eine Fältelung, denn es müsste ein Wort fallen, das er um nichts in der Welt schreiben möchte. Dennoch wäre es in diesem Fall sogar gerechtfertigt. Allerdings, und hier stoppt er, wird er niemals «eigentlich» in die Tastatur hacken. Diese Schuhe, denkt er sich, diese Schuhe. Fein geschwungen, aber nicht italienisch elegant. Das hielt er für übertrieben. Es musste einen Touch geben, der eher jenseits der Alpen geschätzt wurde. Im Süden wäre es als Stilunsicherheit charakterisiert worden. Doch ihm ging es um den Halt, die orthopädische Sicherheit, die Langlebigkeit. Tadellos sahen sie wie Brotlaibe aus, ja, wie ein Kasseler ohne Einschnitte. Jacques Jordan, so hat er wohl geheißen.